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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.11 (1885)
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Nr. 18

MITTHEILUNGEN des D. u. ö. A.-V.

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ausklettern um sich gebunden hatte, war in erster Linie,
uns beim Nachkommen, nachdem Emil einen festen Stand
gefunden haben würde, zu unterstützen, oder auch behufs
Zeitersparniss direct aufzuseilen; erst in zweiter Linie konnte
es eine Sicherung für Emil sein, jedoch nur so lange, als
die Entfernung zwischen ihm und uns nicht zu gross
wurde. Mit einer Entfernung von 10 m von uns wurde
die Sicherung für Emil bei dem sehr steilen und schwieri¬
gen Felsterrain nahezu illusorisch, sie hörte ganz auf bei
20 m und vollends bei 30 m. Emil wusste dies so gut
als wir und konnte sich nur auf seine Klettergeschicklich¬
keit verlassen. "Wir hatten Emil öfter Stellen von glei¬
cher oder ähnlicher Schwierigkeit sicher überwinden sehen;
wir glaubten auch im vorliegenden Falle nicht, dass ein so
ausgezeichneter und so sicherer Kletterer fallen könnte. —
Was die eigentliche Ursache des Sturzes anlangt, so glaube
ich, dass die von Emil gemachte Seilschlinge abgeglitten
ist. Ich weiss nicht sicher, ob es geschah, als er an der
zuerst gemachten Seilschlinge herabglitt — vielleicht als
er diese Schlinge, um tiefer zu kommen, verlängern wollte,
oder als er etwa eine zweite um einen tiefer befindlichen
Felsvorsprung zu befestigen suchte. Im Momente des Stur¬
zes sah ich nicht hinauf. Auch war die Stelle zu hoch
und zu senkrecht über uns, als dass man die Manipula¬
tionen Emils im Einzelnen hätte unterscheiden können. Da¬
her hat auch Otto, der Emil wanken sah, nicht unmittel¬
bar wahrgenommen, was die directe Veranlassung des Stur¬
zes war. Auch er nimmt an, dass die Seilschlinge ab¬
glitt, »wie man an dem plötzlichen Nachgeben des Seils
deutlich wahrnehmen konnte« (Oesterr. Alpen-Zeitung Nr. 173,
S. 210). Es ist nicht unbedingt ausgeschlossen, dass der
Sturz durch Ausbrechen eines Steines oder durch einfaches
Verlieren des Haltes veranlasst worden ist, obwohl ich dies
bei einem so erfahrenen Kletterer für unwahrscheinlicher
halte, als die erste Annahme. Jedenfalls war die Stelle
eine solche, dass das Abwärtsklettern schwieriger und ge¬
fährlicher war, als das Emporklettern. Unsere Pflicht beim
Eintreten des Sturzes war klar vorgezeichnet. Wir mussten
durch Ergreifen und Festhalten des Seiles den Sturz auf¬
zuhalten suchen, einerlei, ob dadurch eine Bettung Emils
möglich war oder nicht, das zu überlegen war ja
keine Zeit. Das Seil lag dicht bei Otto. Er vermochte
dasselbe mit grosser Schnelligkeit zu ergreifen und
um den rechten Arm zu winden. Ich selbst musste erst
zwei Schritte machen und um den Felsvorsprung herum¬
greifen, um das Ende des Seiles zu erfassen. Es gelang
mir noch, es fest um die rechte Hand zu wickeln, mich
mit der linken Hand am Felsen zu halten und mit den
Füssen an einen Felsvorsprung zu stemmen. Indessen war
Emil auf dem Felsabsatz über uns zum ersten Mal aufge¬
schlagen und flog wieder hinaus in die Luft, um neben uns
und zwar etwas unterhalb unseres Standpunktes wieder auf¬
zuschlagen. Auch jetzt noch waren die ca. 30 Meter Seil
zwischen Otto und Emil noch nicht zur Spannung gelangt.
Erst als der Körper vom zweiten Aufschlagen aus wieder
hinaus in die Luft flog, erfolgte das Spannen des Seils mit
einem furchtbaren Choc, der Otto umriss und eine kurze
Strecke schleifte. Hiebei riss das seidene Seil, nicht etwa
in Folge Schleifens über den Felsen, sondern im Moment der
äussersten Spannung durch die Wucht des Falles. Otto
hatte dieser furchtbaren Wucht tapfer widerstanden, aber er

war im Fallen begriffen, als ich den Choc erhielt und den¬
selben, obwohl ich stark an den Felsen gepresst wurde und
das Seil sich tief in meine Hand, namentlich deren kleinen
Finger einschnitt, auszuhalten vermochte. Nach diesem, seinem
Fallen entgegengesetzten Widerstand war Otto im Stande,
einen Felsen zu umklammern, und wir waren gerettet. —
Das rasche und unmittelbare Zerreissen des Seiles wird
meines Erachtens wesentlich dadurch erklärt, dass Otto das
um den Arm gewundene Seil noch nebenbei in aller Eile
um einen Felszacken gelegt hatte. Die Spannung erfolgte
also zwischen dem in die Luft hinausfallenden Körper und
dem um einen unnachgiebigen Felsen befestigten Seil. Viele
Leser kennen gewiss das Experiment, wie man auch einen
recht starken Bindfaden, den man in richtiger Weise um
die Hände schlingt, durch einen scharfen Euck zerreissen
kann. Wäre die Spannung nicht zwischen dem Felsen und
dem fallenden Körper, sondern zwischen diesem und Otto's
Arm, um dem das Seil gewunden war, erfolgt, so wäre das
Seil wahrscheinlich nicht gerissen, da es an Otto's Körper
keinen starren, sondern einen elastischen und nachgiebigen
Widerstand gefunden haben würde. Aber Otto würde dann
jedenfalls mit hinabgerissen worden sein und ich würde
ihn nicht haben halten können. Gerade die Befestigung
des Seils am Felsen und der gewaltige Choc erklären in
unserem Fall auf eine einfache und natürliche Weise das
Eeissen des Seils, welches bei den so wesentlich anderen
Verhältnissen des Matterhorn-Unglücks von 1865 ein düste¬
res Eäthsel geblieben ist. Allerdings wurde im vorliegen¬
den Falle das Seil vom Felszacken heruntergerissen, Otto
auf die Seite geworfen und geschleift, aber das waren
meines Erachtens mittelbare Wirkungen des Chocs, dessen
erste und unmittelbarste Wirkung das Eeissen des Seils war.
Das seidene Seil, welches vorher nur auf einer Feriencam-
pagne (bei 10 zum Theil leichten Touren) gebraucht worden
war und einige leichte Aufschürfungen gezeigt hatte, war
vor dem Antritt der diesjährigen Eeise von einem Seiler
sorgfältig ausgebessert worden. Gerade die Stelle, an der
es riss, war durchaus intact. Immerhin ist die Thatsache,
dass das seidene und nicht das Seil aus Manilahanf beim
Sturze riss, für die Beurtheilung der Verwendbarkeit der
seidenen Seile bei Hochgebirgstouren von Bedeutung. (Vergl.
Mittheilungen 1885 S. 63.) Bei dem weiteren Sturze ist
dann auch das Hanfseil noch mehrfach zerrissen. Ich glaube,
dass auch die ausschliessliche Verwendung eines solchen den
Sturz nicht würde haben aufhalten lassen. Die furchtbare
Gewalt desselben würde auch dieses zersprengt haben. Und
hätte es etwa doch gehalten, so würden weder Otto noch
ich den entsetzlichen Choc haben aushalten können. Wir
wären dem bereits zerschmetterten Körper Emils gefolgt und
— über den eigentlichen Hergang lagerte ein düsteres Ge-
heimniss! — Dass Emils Körper bereits zerschmettert war —
das glaube ich im Gegensatz zu Ottos Bericht (a. a. O. S. 211)
annehmen zu müssen. Nach einem zweimaligen Aufschlagen
aus einer Höhe von ca. 20 und ca. 12 Metern war unser
armer Freund todt oder doch so lebensgefährlich verletzt,
dass eine Eettung nicht mehr möglich war. Dass Emil so¬
fort bewusstlos und unmittelbar darauf todt war, ist eine
Annahme, die ebenso sicher als tröstend ist. — Als ich
einigermaassen die Fassung wieder gewonnen hatte — Otto
wurde es naturgemäss schwerer, sich mit der furchtbaren
Wirklichkeit abzufinden — banden wir uns an den uns