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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.11 (1885)
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MITTHEILUNGEN des D. u. Ö. A.-V.

Nr. 6

Unsere Führer, unerschöpflich in der Auffindung von
Hilfsmitteln, geleiteten uns unversehrt zum Sattel zurück.
Als ich in die dritte Stufe des eisigen Steilhanges, worin
der Grat endet, getreten, hiess mich Alois warten, um mir
leise zuzuraunen: »Hier ist der Engländer gestürzt.« Der
Nebel war zerstoben und von Alois gehalten, den Oberkör¬
per halb gewendet, schaute ich entsetzt in des Lauteraar¬
gletschers Abgrund, aus dem man Ende Juli 1869 den
Leichnam Mr. Elliot's holte; vor zwei Tagen hatten wir
den Friedhof besucht, in welchem der Todte des Schreck-
horns ruht, und an seinem Grabe gelobte ich, dass ich nie
verlernen will, die Gefahren des Hochgebirgs zu fürchten.
Auf dem Sattel rasteten wir, um 1 U. 5 M. angelangt,
20 Minuten lang und ergötzten uns zeitweilig an herrli¬
chen Ausblicken auf die Wetterhorngruppe. Allerdings jagte
auch jetzt uns entgegen bedrohlich schwarzes Wolkenge¬
schiebe, und dem ist wohl zuzuschreiben, dass wir beim
Einstieg in die Felsen eine falsche Kichtung einschlugen.
Das Couloir zu benützen rieth Niemand, denn die durch¬
wässerte Schneeschichte musste jählings abrutschen, so wie
sie oben in Bewegung kam. Mehr Sicherheit boten unter
solchen Umständen doch die Felsen, weil man den losen
Schutt fortschaffen konnte, um sich dann an dem von Feuch¬
tigkeit triefenden Geklippe mit Anwendung mannigfacher
Kletterkünste hinab zu lassen.

Die Wolken trieben in tollem Wirbel über unseren
Köpfen; im Nu war die ganze Bergseite mit frischem
Schnee überschüttet. Als es sich wieder lichtete, rief Alois:
»Knubel, wir geh'n spottschlecht, nur schnell hinauf! Wirst
seh'n, mehr links .haben wir's leichter«, und da Jener zu¬
stimmte, fügten sich die Uebrigen ohne Widerrede dem
grausamen Commando: »Hinauf!« In der That wären wir
in eine Sackgasse gerathen, denn beiderseits, zeigten sich
senkrechte breite Eiskehlen, unter unserer Felsrippe zusam¬
menlaufend; eine solche, die in den Gletscher einmündete,
vermochten unsere durch das Schneewehen beirrten Augen
nicht zu erspähen und wir mussten, in dem rauhen Gestein
auf- und absteigend, sehr häufig von Fels auf Eis über¬
gehen, mussten, um Unheil zu verhüten, mit stets wacher
Aufmerksamkeit handeln.

Wer die Minuten zählt, meint bald, die Zeit stehe still,
und doch verrauschen unaufhaltsam — ■ und ach, wie un¬
bemerkt! — im Strom der Ewigkeit auch unsere bangsten
Stunden. Lang währte das Eingen, aber wir hielten tapfer
aus und sprangen von der letzten Felsstufe frohlockend
auf den Gletscher, über seinen behaglich gerundeten Eücken
einen beschleunigten Eückmarsch auszuführen.

Aber noch ist der Berg nicht vollständig besiegt, noch
sind wir im Bereich seines racheheischenden Grimmes. Im
Begriff, des Gletschers Breite nahe dem Absturz zu über¬
setzen, höre ich donnern. Was ist das? Der Boden wankt,
mit Sausen kommt es hinter mir, reisst mich um, und be¬
täubt vom Fall und dem rieselnden Geräusch fühle ich nur
deutlich, dass es mich mit übermächtiger Schwere hinunter¬
zieht. — Hätte Alois sich selbst nicht rechtzeitig gerettet,
hätte er nicht mit Anspannung seiner ganzen Kraft das
uns verbindende Seil befestigt, dann wäre die Lawine, die
mich so nur streifte, wahrscheinlich uns Beiden verhän
nissvoll geworden. Mir graute, die kahl geschorene Runse,
die der abwärts sich wälzende Schnee zurückgelassen, auch
nur anzuschauen.

Warum sollte ich verschweigen, dass vor Schrecken und
Erschöpfung alle meine Glieder bebten? Uns zu laben, wur¬
den an einem sicheren Ort die Essvorräthe ausgepackt,
allein kaum hatten wir recht zugegriffen, als es jenseits
des Finsteraarhorns wie Pulverdampf aufflog, vor einer
gelblich umrandeten schwarzen Wolkenbank, die unvermerkt
dastand, zusehends wuchs — nur rasch auf und rasch
laufen, dass uns das Gewitter nicht in der langen Einne
ereile! Fieberhaft erregt hasten wir auf dem überschotterten
Felswall, dann im Kamin, dessen Steilheit uns eben recht
ist; jetzt schnell des Eispickels Stock leicht eingestemmt
und die Sohlen flach aufgelegt, so fahren wir in kecker
Flucht, übermüthig geschwind ab, Einer dem Andern knapp
an den Fersen. Hing über den Felswänden Schnee, auf
uns herabzustürzen? Wir achteten dessen nicht. Sind Steine
gefallen? Möglich, uns hat keiner getroffen. Wieder zucken
fahle Blitze um des Schreckhorns verfinsterten Bau, und
dröhnend hallt es vom Echo des Donners in den gewalti¬
gen Wänden. Wir stürmten der Hütte zu — erreichten
sie noch vor 6 U,, da die ersten Regentropfen bleischwer
auf die Steinplatten ihres Daches schlugen, glücklich, dass
wir wohlgeborgen ruhen durften, während draussen ein wil¬
der Aufruhr über den Gletschern und Höhen tobte. Binnen
14 Minuten hatten wir eine Strecke passirt, für die im
Aufstieg mehr als 2 Stunden nöthig waren.

Wir beabsichtigten am folgenden Tag über die Strahl¬
egg zu wandern; wegen schlechtem Wetter blieb das ein
unerfüllter Wunsch. Wohl klärte es sich später, aber da
waren wir schon weit unten auf dem Grindelwaldfirn und
zogen nun im . lachenden. Sonnenschein thalwärts. Das
Schreckhorn, das lachte nicht; das hob sich in den glanz¬
erhellten Himmel hinter uns, wie eine, drohend geballte
Eiesenfaust.

Ob die nicht das Zeichen geben wird, zum Weltunter¬
gang, wenn sie einmal polternd dreinschlägt?

Der Bergsturz an der Bocca di Brenta.

Es ist fast ein Gemeinplatz geworden, dass die Gebirge
durch den fortschreitenden Process der Verwitterung und
durch die Wirkungen des Wassers unaufhörlich abgetragen
werden, und so einer endlichen Vernichtung entgegengehen;
doch gehört in der Eegel ziemlich viel Phantasie dazu, um
aus den unzähligen, an und für sich sehr kleinen Einzel¬
heiton dieses Vorganges sich die Grosse der Gesammtwir-
kung desselben zum Bewusstsein zu bringen. Hie und da
geschieht aber einmal auch ein stärkerer Euck, welcher uns
deutlich werden lässt, dass die Natur nicht immer im Klei¬
nen arbeitet, um grosse Eesultate zu erzielen.

So dürfte wohl in unseren Tagen neben der Hochwasser-
Katastrophe von 1882 und dem Bergsturz von Elm eine
der bedeutendsten Veränderungen, welche an der Gestalt
der Alpen geschehen ist, der Einsturz eines der Thürme
des Crozzon di Brenta sein, welcher im Mai 1882 erfolgte;
eine Erscheinung, die in ganz überwältigender Weise vor¬
führt, welche Massen von Steinmaterial selbst in der schlank¬
sten Felsnadel aufgethürmt sind, und welche Veränderungen
in der Oberflächengestaltung das Zusammenbrechen unserer
Hochgipfel endlich herbeiführen muss.

Das herrliche Gebirge der Brenta-Gruppe, das an
Kühnheit der Formen und Schönheit der Farben den schön-