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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.13 (1887)
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DES

DEUTSCHEN UND ÖESTERREICHISCHEN ALPENVEREINS.

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Nr. 5.

MÜNCHEN, 1. März.

1887.

Schneegrenze und Firnfleckenregion.

Von E. Richter in Graz.

Herr Professor F. Ratzel hat in einer, dem grösseren
Publikum schwer zugänglichen Zeitschrift *) drei Artikel »Zur
Kritik der natürlichen Schneegrenze« veröffentlicht, deren
Inhalt weiteren Kreisen bekannt zu machen ich für eine
sehr dankbare Aufgabe halte, wobei sich auch Gelegenheit
ergeben wird, meine in einem Punkte abweichende Auffassung
zum Ausdruck zu bringen.

Eatzel's Gedankengang ist in kurzen Zügen folgender.
Seit den Tagen Humboldt's hat die Lehre von der Schnee¬
grenze keine Fortschritte mehr gemacht, ja sie ist in ein
Stadium der Versumpfung getreten. Ganz abgesehen davon,
dass in Hand- und Lehrbüchern kritiklos immer wieder die
alten, meist auf Humboldt zurückgehenden Listen der Höhe
der Schneegrenze in den verschiedenen Gebirgen abgedruckt
werden, finden sich in diesen Verzeichnissen Daten neben¬
einander gestellt, welche auf den verschiedensten Auffassungen
der Sache beruhen. Das kommt aber vornehmlich daher,
dass man die Schneegrenze immer einseitig als klimatologische
Erscheinung aufgefasst hat, anstatt als orographische; man
vergisst die zahlreichen dauernden Firnflecken, welche an so
vielen Gebirgen weit unterhalb der sogenannten Schneegrenze
vorkommen, und welche den orographischen Begünstigungen,
in erster Linie der schattigen Lage, ihr Dasein verdanken.

Diesen Firnflecken, als einer ständigen und gesetzmässigen
Erscheinung, will nun der Verfasser eine grössere Aufmerk¬
samkeit zugewendet sehen und er gibt zugleich eine Classification
derjenigen, welche in den nördlichen Kalkalpen auftreten.
Er unterscheidet dreierlei Oertlichkeiten, in welchen sie sich
regelmässig vorfinden: 1. beschattete Kinnen, 2. die obere
Grenze der Schutthalden gegen das darüber emporragende
Felsgestein und 3. beschattete Thäler oder Schluchten
der höheren Kegionen, besonders in der Nachbarschaft
der Gipfel. Unter 1. fallen die tiefsten Vorkommnisse,
wie die Eiskapelle bei Berchtesgaden in 840 m, mehrere Firn¬
massen in 1400 und 1500 m Höhe an der Karwendelspitze,
andere in angeblich 121300m in schwer zugänglichen
Schluchten des Herzogstandes und Heimgartens. Es sind meist
(wohl ausschliesslich) Lawinenreste. "Wichtiger sind die Firn¬
flecken der zweiten Gruppe. Sie sind zahlreicher, grösser
und von einer hervorragenden Gleichartigkeit der Existenz¬
bedingungen, Eigenschaften und Wirkungen. Sie gehören zu

*) Leopoldina, Organ der kais. leopold. karol. deutschen
Akademie der Naturforscher 1886, Nr. 19—24.

den auch landschaftlich charakteristischen Erscheinungen unserer
Kalkalpen und treten uns auch in den Schilderungen fremder
Gebirge häufig entgegen. Sie liegen meist in annähernd
gleicher Höhe und sind in ihren tieferen Partieen vereist.
An ihrem unteren Rande häufen sich nicht selten Schutt¬
wälle an, da die Trümmer über sie hinweggleiten. (Vergl.
Penck, »Zeitschrift des D. u. Ö. A.-V.« 1885 S. 264.)

Die dritte Gruppe gehört der Region an, welche man in
unseren Kalkalpen als die der Schroffen und Klippen bezeichnen
könnte. In der Regel bleibt nicht viel Raum zur Entwicklung
grösserer Firnfelder, doch erhalten sie sich, da sie das ganze
Jahr durch Niederschlag in fester Form genährt werden.

Die Dicke der Firnflecken ist gering, doch stellen sie
ein örtliches Maximum der allgemeinen winterlichen Schnee¬
decke vor, und besitzen deshalb naturgemäss eine längere
Dauer. Sie liegen überhaupt in der Höhenzone, welche wahr¬
scheinlich die grösste Menge Niederschläge erhält; den grössten
Einfluss auf ihre Bildung übt aber ohne Zweifel der Wind
aus, der den Schnee umlagert.

Der Verfasser erklärt hierauf, dass er den Ausdruck
Firngrenze für richtiger und passender halte, als die Be¬
zeichnung Schneegrenze, da alle Arten dauernder An¬
sammlungen fester Niederschläge aus Firn, das ist eben
grobkörnig gewordener Dauerschnee, bestünden, und er eine
Unterscheidung zwischen der Firnlinie, die auf dem Gletscher
verläuft und einer daneben verlaufenden Schneelinie nicht an¬
nehmen könne. Schliesslich formulirt er die Ergebnisse seiner
Auseinandersetzungen wie folgt:

Man muss eine klimatologische und eine oro¬
graphische Firnlinie scheiden. Erstere ist jene Linie,
oberhalb deren der Firn vermöge der niedrigen Lufttemperatur
und seiner Masse auch ohne den Schutz orographischer und
geologischer Begünstigung nicht mehr wegschmilzt. Die
orographische Firngrenze ist die Linie, welche die
Gruppen der im Schütze von Lage, Bodengestalt undJBoden-
art vorkommenden Firnflecken und Firnfelder verbindet. An
manchen Gebirgen müsse man vielleicht mehrere Linien
letzterer Art unterscheiden, welche die Regionen der zufälligen
Lawinenreste, der zahlreichen kleinen und geselligen Firn¬
felder, der mächtigeren Felder mit der Tendenz, zusammen¬
hängende Firndecken zu bilden, von einander trennen. Die
letztere falle mit der Firngrenze Hu gi' s und Pay]er' s und
gleichzeitig mit dem zusammen, was Ratzel als klimatische
Firngrenze bezeichnet.

Es ist natürlich nicht möglich, die vielen geistreichen
und auf feine Naturbeobachtung begründeten Bemerkungen