/ 322 pages
Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.15 (1889)
Search


MITTHEILUNGEN

DES

DEUTSCHEN UND OESTERREICHISCHEN ALPENVEREINS.

Die Mittlieilungen erscheinen am 15. und letzten joden Monats.

Die Mitglieder des Vereins erhalten dieselben unentgeltlich.

Für Nichtmitglieder mit Postversendung:

3 fl. 70 kr. ö. W. = G M. = 8 Fr.
Preis der einzelnen Kummer 15 kr. ö. W. = 25 Pf.

Schrif'tleitung und Geschäftsstelle: Wien,
I., Stubenbastei 2.

Oesammt-Auflage 25.000.

Alleinige Anzeigen-Annahme

bei Rudolf BlOSSe, Wien, I., Seilerstätte 2; München, Pro-
menadeplatz 16; ferner in Berlin, Breslau, Chemnitz, Cöln,
Dresden, Frankfurt a. II.; Halle a. S., Hamburg, Hannover,
Leipzig, London, Magdeburg. Mannheim. Nürnberg, Prag,
Strassburg, Stuttgart, Zürich.

Anzeigenpreis:
25 kr. ö. W. = 40 Pf. für die viergespaltene Nonpareille-Zeile.

Für Form und Inhalt der Aufsätze sind die Verfasser verantwortlich.

Nr. 19.

Wien, 15. October.

1889.

Der Gletscherausbruch im Martellthal und seine Wiederkehr.

Von E. Richter in Graz.

Im Juni dieses Jahres lief eine Notiz durch die
Zeitungen, dass aus dem Zufallferner im Hinter¬
gründe des Martellthales plötzlich eine ungeheure
Wassennasse hervorgebrochen sei, welche durch das
ganze Thal und bis in das Etschthal hinab furcht¬
bare Verheerungen angerichtet habe. Schon im Jahre
vorher (1888) sei zur selben Jahreszeit ein ähnlicher
v Wasserstuben-Ausbruch" erfolgt; der diesjährige
übertreffe aber seinen Vorgänger bei Weitem in der
Grosse der Verwüstungen. Für die Gletscherkundigen
war das eine Nachricht von höchstem Interesse, um-
somehr, als eigentlich Niemand zu sagen wusste, was
eine „Wasserstube" in einem Gletscher sei. Es kommt
wohl vor, dass sich in zurückgehenden Gletschern ein¬
zelne Spalten oder Gletschermühlen so verschliessen,
dass Wasseransammlungen entstehen. Aber die eini¬
gen Dutzende oder auch vielleicht Hunderte von
Öubikmetern Wasser, um die es sich da handelt,
konnten nicht eine Hochfluth erzeugen, welche 27
Brücken zerstört und noch 7 St. weiter abwärts im
Hauptthale mehrere Quadratkilometer Wiesen über¬
schwemmt hat. Zwei Mitglieder der S. Meran, welche
sich am 26. Juni auf Ansuchen des Central-Aus¬
schusses des D. u. Oe. Alpenvereins in das Martell¬
thal begaben, brachten ausführliche Nachrichten über
die Ausdehnung der Verwüstung und über den Ver¬
lauf des Ereignisses.

Der bekannte Führer und Gastwirth in Gond,
Martin Ebenhöfer, befand sich eben in der Zufall-
hütte der S. Dresden, welche nur etwa 3 / 4 St. vom
Zufallgletscher entfernt ist, als die Katastrophe eintrat.
Er wurde am 5. Juni um i /i& h morgens durch ein un¬
gewöhnliches Toben der Plima aufmerksam gemacht
und sah dieselbe binnen Kurzem so hoch steigen,
dass die unterhalb der Zufallalpe befindliche Klamm
nicht mehr im Stande war, die Wassermenge aufzu¬
nehmen und überlief. Er eilte thalaufwärts und be¬
merkte, dass die Gewässer einem Eissthore des

Zufallgletschers entströmten. Etwa 2 St. nach dem
Ausbruch erreichte das Hochwasser die Ortschaft
Gond. Es hatte sich inzwischen mit dem Holze von
etwa zehn Brücken, mit zahlreichen mitgerissenen
Bäumen und Sträuchern, vor Allem aber mit unge¬
heuren Geröll- und Erdmassen beladen. Besonders
ein Schuttkegel des rechten Bachufers unmittelbar
oberhalb Gond lieferte tausende der mächtigsten
Blöcke. So ergoss sich also nicht eine Wasserfluth,
sondern eine Muhre über die unglückliche Ortschaft.
Der Anblick, den dieselbe jetzt noch gewährt, ist
wahrhaft schaudererregend. Mitten zwischen den
Häusern durch, von denen drei spurlos vertilgt wur¬
den, und durch die schönsten Wiesen läuft ein neues,
breites Bachbett, mit groben Blöcken erfüllt, von
denen wohl viele hunderte mehr als einen Cubik-
meter messen. Auch das alte Bachbett ist stark
vergrössert und vertieft. Die wenigen übrig geblie¬
benen Wiesenreste sind mit Blockwällen eingesäumt,
welche die schutzlosen Häuser zu überragen scheinen.
Ist hier bei Gond der Höhepunkt der Verwüstung,
so sind die Verheerungen thalabwärts nicht viel
geringer. Der Weg ist auf viele Kilometer hin ver¬
schwunden. Noch bei Morter an dem Thalausgange ist
fast die ganze Thalsohle in ein wüstes Schotterbett
verwandelt. Weiter aufwärts, besonders im Gebiete
der Alpen ist die Zerstörung geringer; hier war das
Wasser noch nicht so sehr mit Holz und Geröll be¬
laden. Doch sind auch bei Maria Schmelz beträcht¬
liche Stücke des Weges und einige Wiesenflächen
verschwunden.

Nur mit knapper Mühe gelang es den Bewohnern
von Gond, sich auf die benachbarten Berglehnen zu
retten, so dass kein Menschenleben verloren ging.
Hingegen beträgt der behördlich erhobene Schaden
an Häusern, Feldern, Strassen und Brücken 94.000 fl.,
während der Ausbruch des Jahres 1888 schon einen
solchen von 43.000 fl. verursacht hatte.