Nr. 14.
Mittheilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins.
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fort gieng es über schöne Matten der Mündung des
Val Pravitale zu, in dessen oberstem Tlieile wir
Herrn Schuster wieder treffen wollten. Herrlich
war der Anblick der Bergriesen, um deren Flanken
die leichten, von der Morgensonne bereits zertheilten
Nebelmassen schwebten, und mehrmals wurde der
Apparat in Anspruch genommen, um diese flüchtigen
Stimmungsbilder auf die Platte zu fesseln. So geht
es in gemächlichem Schritt das trümmererfüllte Thal
hinan, bis eine hohe Steilstufe uns zu grösserer Auf¬
merksamkeit anhält, da der Weg über sie oft in
schwindelnder Höhe über Klammen und Rissen steil
hinanführt; rechts und links vom Wege nicken
grosse Edelweisssterne, und bald ist der Hut mit
diesem herrlichen Alpenvereinssymbol geschmückt.
Höher und höher streben wir empor, und bald stehen
wir bewundernd in dem obersten Kessel des Thaies.
Welchen Eindruck die sich hier darbietende, über¬
aus grossartige Felsscenerie selbst auf einen der
besten Kenner der Alpen, den vielgereisten Leslie
Stephen gemacht hat, beweisen deutlich seineWorte:
„Ein wilderes Stück Felsscenerie ist nicht zu finden
in irgendwelchen Bergen, die ich besucht habe.
Keine gewellten Schneefelder, keine sich bäumenden
Eismassen unterbrechen die furchtbare Eintönigkeit.
Wohin man sich auch wenden mag, ist nur der
Wechsel nackter Steilwände und kühner Dolomit-
thürme." Nicht lange dauerte es, da kamen unsere
beiden Erwarteten von der Cima di Canali herab.
Wir waren'Alle der Ansicht, dass selten eine Schutz
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hütte einen würdigeren und zweckmässigeren Platz
finden könne wie gerade hier, wo sich die Gipfel,,
ich möchte fast sagen um die Hütte zusammen¬
drängen. Auch würde die sehr bedeutende Höhen¬
differenz von ca. 1500 m. von der Malga Canali oder
von San Martino aus den Bau einer Hütte zweck-
mässig erscheinen lassen.
Nach längerer Rast stiegen wir zum Passo di
Ball empor, von wo aus sich ein eigenartiger, ganz
neuer Ausblick eröffnet. Auf gutem Schnee gieng
es dann, theilweise abfahrend, in das zwischen der
Cima di Val di Roda und der Pala di San Martino
gelegene Thal hinab, das sich plötzlich stark verengt
und in eine steile Schneeschlucht verwandelt. Zwei¬
mal mussten wir mittelst ziemlich schwieriger Klet¬
terei aus der Rinne heraus steigen, da unüberkletter-
bare Stufen dieselbe in diesem schneearmen Sommer
unterbrachen, ehe wir zum Ausgange derselben in
das Val di Roda gelangten. Kurze Zeit darauf trafen
wir in San Martino ein, wo Herr Flössner uns er¬
wartete. Letzterer sowohl, sowie mein Freund Schu¬
ster und ich lernten bei weiteren, von unserer Seite
nunmehr führerlosen Touren im Gebiete des Val Pravi¬
tale und des Passo di Ball die eigenartigen Reize dieses
innersten Theiles der Pala Gruppe weiterhin kennen,
was uns immer mehr und mehr in unserer Ansicht
bestärkte, dass mit einer Hütte im Val Pravitale ein
vorzüglicher Stützpunkt für Hochtouren und Pass¬
übergänge gewonnen werden könne. Zugleich konn¬
ten wir constatieren, dass eine Verschmelzung beider
Hütten in eine einzige, die an die Gabelung zwischen
dem Val Pravitale und dem Val di Canali zu liegen
kommen müsste, nicht angängig sei, da ein solches
Asyl dann viel zu tief läge.
Möge mir der geduldige Leser, der mir bis hier¬
her gefolgt ist, gestatten, die Topographie der Hütten-
febiete etwas näher zu beleuchten und in aller
oirze die Hochtouren und Uebergänge zu bespre¬
chen, die in Verbindung mit den Hütten ausgeführt
werden können. Die ganze Pala Gruppe besteht aus
drei grossen Gebirgszügen. Wir haben zunächst den
Hauptzug, der in der nordsüdlichen Richtung vom
Cimone della Stia bis zur Cima Cimerlo zieht und
durch das Val di Roda, das zwischen der Rosetta und
der Cima di Val di Roda hinabzieht, getheilt ist, von
denen für uns nur der südliche in Betracht kommt.
Mit dem Hauptzuge nahezu parallel von Nordnord¬
ost nach Südsüdwest streichend, dehnt sich der Zug
der Croda Grande aus. Beide Kämme sind durch den
sogenannten Querzug verbunden, der bei der Pala
di San Martino beginnt und bei der Croda Grande
endigt; zwischen den zwei Hauptzügen ist das grosse
Plateau der Pala nach Norden in Form eines gleich¬
seitigen Dreiecks eingelagert, dessen eine Seite der
Querzug bildet. Zwischen dem Plateau und dem
Hauptzug, zwischen dem Zug der Croda Grande
und dem Plateau des Val Angoraz, ist das Val delle
Comelle eingeschnitten. Vom Querzug zweigt ein
hoher Kamm in südöstlicher Richtung ab, und zwar
etwas westlich von dessen Culmination, der Cima di
Fradusta; er trennt das Val di Canali vom Val Pra¬
vitale. Diese beiden nach Süden führenden Thäler
vereinigen sich und bilden für ein kurzes Stück ein
gemeinsames, zwischen dem Hauptzug und dem Zug,
der Croda Grande eingelagertes Thal. Die Schutz¬
hütten sind in dem obersten Theile dieser Thäler ge¬
legen. In dem Zug der Croda Grande ist als Merk¬
würdigkeit ein kleines Hochplateau zu verzeichnen,
die schon erwähnten Fuochi della Croda Grande, das
sich zwischen letzterer und dem Querzug einlagert.
Von Pässen in diesem Gebiete sind erwähnens-
werth der Passo Canali, der aus dem obersten Boden
des Val di Canali auf das Palaplateau führt, und von
dem aus man über die Forcella di Miel in das Val
di San Lucano und nach Agordo gelangt, oder, bei
dem letztgenannten Passe links abbiegend, zur Rosetta-
hütte am westlichen Plateaurand und nach San Mar¬
tino wandern kann. Es stellen demnach diese beiden
Pässe die bequemsten, directen Zugänge von Agordo,
respective von San Martino dar.
Von Pässen im südlichen Zuge der Croda Grande
ist von Bedeutung die Forcella delle Muglie zwischen
Sasso Ortiga und Punta della Madonna und weiterhin
der Passo d' Oltro zwischen der letztgenannten Spitze
und der Cima d'Oltro (Sass Cavallera). Auch über
diese Pässe kann man von Agordo, respective vom
Ceredapass aus die Hütten erreichen. Hochbedeutsani
in touristischer Beziehung und ausgezeichnet durch
die überaus grossartige Scenerie ist der Passo di Ball,
der das Val Pravitale mit dem Val di Roda ver¬
bindet. Während von Primiero aus dieser Pass zwar
mühsam, aber infolge der neuen Weganlage ganz
unschwierig zu erreichen ist, kann der Zugang von
San Martino aus zeitweise recht schwierig werden,
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