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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.24 (1898)
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Mittheilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins.

Nr. 23.

schafft, hat Stil, ein natürliches Gleichgewicht der
Theile, Abrundung und Einheit.

Somit ist also der Satz gewonnen, dass in den organischen
Reichen alle Bildungen infolge ihrer ausgesprochenen Zweck-
mässigkeit und Einheitlichkeit unser Wohlgefallen zu erregen
geeignet sind. Von diesem Standpunkt aus wendet sich nun
der Autor wieder der Betrachtung der unorganischen Natur zu,
die vor Allem in den Formen der Erdoberfläche für unser Auge
sichtbar wird. Diese Formen sind es, die in Verbindung mit
der Vegetation das bilden, was wir Landschaft nennen.

Und nun ergiebt sich auch die Erklärung unseres Wohl¬
gefallens an der natürlichen Landschaft von selbst. „Die un¬
belebte Natur — eben die Landschaft — ist innerlich in ihren
Formen gerade so naturgesetzlich bedingt wie die organische
Natur." Die Bahn, in der der abgesprengte Stein zu Thal kol¬
lert, ist ihm von den Naturgesetzen auf das Allergenaueste vor¬
geschrieben, er kann ebensowenig eine andere Bahn ein¬
schlagen, als aus dem Samen der Eiche eine Tanne wachsen
kann". Ueberall herrscht ein unbedingter Zusammenhang zwi¬
schen Ursache und Wirkung, ein Zusammenhang, der uns sogar
im Einzelnen meist viel leichter verständlich ist als die Bil¬
dungsgesetze der organischen Welt. „Hier die Steilküste: wir
sehen die Schichten eines Gesteines,- das einst auf dem Meeres¬
grunde abgelagert worden ist; eine Bewegung der Erdkruste
hat einen Theil davon emporgehoben; die Bruchfläche bildet
eine FeWand; der andere Theil ist unter den Meeresspiegel
abgesunken. Jetzt rollen die langen Wellen der blauen Salz-
fluth heran, der Wind treibt sie in einer bestimmten Richtung,
er selbst ein Glied in dem grossen Triebwerk der atmosphäri¬
schen Circulation. Wo sich die Welle überschlagen wird, das
ist genau und leicht zu berechnen; jetzt donnert die Brandung
und wäscht Gruben und Löcher von genau bekannten und be¬
stimmten Formen aus. Die überhängenden Klippen stürzen
herab, und zwischen ihnen gurgelt die Brandung — wie sie
muss. Und darüber eine Pflanzenwelt an der Felswand, wie sie
dem Klima entspricht. Alles ist Gesetz und Zwang, nirgends
eine Willkür.«

So muss jeder aufmerksame Beschauer auch aus der Land¬
schaft das Gesetzmässige, Motivierte heraus empfinden, wenn er
sich auch um die Vorgänge und ihre Gesetze im Einzelnen nie
gekümmert hat; „man hat das Gefühl, das Alles muss so sein,
so wie der Hirsch vier Beine haben muss und nicht fünf". Da
also die unbelebte Natur ebenso durch die Naturgesetze in ihren
Formen bedingt ist wie die organische, hat sie wie jene Stil,
Einheitlichkeit und Ausdruck und wirkt wie jene an und für
sich wohlgefällig.

Doch darf nicht übersehen werden, dass infolge der Com-
pliciertheit der Landschaftsbilder die Empfindung für das Ge¬
setzmässige und Natürliche in der Landschaft bei Weitem nicht
so naheliegend und daher auch nicht so allgemein verbreitet
ist als gegenüber der organischen Natur. Man erkennt das leicht
an den Nachbildungen, den Schöpfungen der Bildhauer und
Maler. Auch die Wiedergabe des menschlichen Körpers hat eine
lange Geschichte; von den ersten Erinnerungsbildern der mensch¬
lichen Figur, wie sie in den Anfängen der Kunst geschaffen
wurden, bis zu Werken hochstehender Kunstperioden ist ein
langer, mühevoller Weg zurückzulegen gewesen, und es hat an
Rückschlägen nicht gefehlt. Anfangs wird nur das Auffallende,
das man sich gemerkt hat, ohne Rücksicht auf Grössenverhält-
niss und natürlichen Zusammenhang dargestellt, die Nase im
Profil, die Augen und der Rumpf in der Vorderansicht, die
Beine schreitend. Spät folgen erst Perspective und Verkürzungen.
Die richtige Wiedergabe der Thiere bleibt lange hinter der der
Menschen zurück (wie man sich z. B. im vaticanischen Museum
leicht überzeugen kann, wo neben den wunderbarsten Werken
antiker Menschendarstellung eine grosse Anzahl Hundestatuen
ganz charakterloser und unbestimmbarer Art erhalten sind).
Noch viel länger dauerte es, bis auch an die Landschaft die
Anforderung der Natürlichkeit und Wahrheit erhoben wurde.
Auf Bildern aus der Glanzperiode der italienischen Malerei
sieht man absolut unmögliche Landschaften, und noch in der
ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, könnte man hinzufügen,
wurden Landschaften gemalt, die von der Natur ebenso weit ent¬
fernt sind als die Figurenmalereien des Mittelalters. Gegenwärtig
hat sich das wesentlich gebessert, wohl vornehmlich durch die Ein¬
wirkung der Photographie. Die Bedeutung dieser Kunst für die

Malerei liegt hauptsächlich darin, dass sie die Verzerrungen corii-
giert, denen die gewonnenen Eindrücke sonst in der Erinnerung
unterliegen. Das Gedächtniss behält nur das Auffallende; ein einst
gesehener ßteiler Berg wird in der Erinnerung immer steiler
und spitziger; die Photographie ermöglicht es, die richtigen
Formen sich wieder vor Augen zu halten.

Im Fortgang der Erörterung -wird dann noch auf mehrere
wichtige Bedingungen für das Wohlgefallen an der Landschaft
hingewiesen. Eine der wichtigsten ist die „Bildmässigkeit".
„Bildmässig" muss nämlich nicht nur die gemalte, sondern auch
die natürliche Landschaft sein, wenn sie gefallen soll. Das heisst
so viel als: der Gegenstand oder die Gruppe von Gegenständen,
um die es sich handelt, „müssen so angeordnet sein, dass man
sie in ihrer Form und Gestalt deutlich überblicken und auf¬
fassen kann". Man muss wissen, was man vor sich hat, so wie
man von einem Figurenbild verständliche und zusammenhän¬
gende menschliche Körper verlangt. „Mag der Ausschnitt aus
der Natur gross oder klein sein, man muss einen bestimmten,
in verständlicher Weise mit Formen erfüllten Raum sehen."
Daraus ergiebt sich auch die Nothwendigkeit einer richtigen
Perspective.

Die Anforderung der Bildmässigkeit der Landschaft wird
in der Natur gar nicht häufig befriedigt, meist nur von ein¬
zelnen geeigneten Punkten aus und nur bei bestimmten Be¬
leuchtungen, wenn die Formen durch Licht und Schatten pla¬
stisch werden, also nicht im grellen Mittagslicht, bei trübem
Himmel, bei starker Schneebedeckung, am häufigsten in den
frühen und späten Tagesstunden, die dadurch berühmt sind.
Dann sind die Formen durch breite Schatten im Grossen ge¬
gliedert und dadurch verständlich.

Ein weiterer, sehr wichtiger Gesichtspunkt ist der, dass die
unbelebte Natur ebenso wie die organische rhythmische Wieder¬
holung der Formen aufweist. Das Relief der Landoberfläche
setzt sich aus wenigen Formen zusammen, die unter mancherlei
Variationen fortwährend wiederkehren. Wenn man auf guten
Photographien die Formenwelt, z. B. der südlichen Kalkalpen
studiert, so wird man finden, „dass selbst bei diesen angeblich
willkürlichsten aller Bergformen ein streng eingehaltener Stil
in den Einzelformen herrscht, der etwas Bewunderungswürdiges
an sich hat. Wie die Krabben und Spitzbögen und Pfeiler und
Fialen an einem gothischen Dome, so stehen immer dieselben
Wandstufen und Thürme und Bastionen nebeneinander, wie
jene, keine der anderen ganz gleich, aber alle von derselben
einmal angenommenen Grössenordnung in rhythmischer Ab¬
wechslung unter sich ähnlich und durchaus stilgerecht. Die
gleichmässige Schichtung, der gleiche Widerstand gegen die
Verwitterung, die regelmässige Anordnung der Wasser- und
Steinschlagrinnen, Schuttkegel u. s. w. prägen bei aller angeb¬
lichen Willkür und Freiheit in der Anordnung dem Ganzen
einen einheitlichen Charakter auf".

Da nun aber auf der rhythmischen Wiederholung gewisser
verständlicher Formen, z. B. in der Architektur und in der
Musik, ohne Zweifel die wohlgefällige Wirkung beruht, so finden
wir hier eine neue wichtige Erklärung für die ästhetische Wir¬
kung der Landschaft.

Weitere wichtige Elemente für die Schönheit der Land¬
schaft sind: wohlgefällige Farbe, eine gewisse materielle Grosse
und das Vorhandensein von Contrasten in der Farbe und im
Linienflusse.

Das Wohlgefallen an gewissen Farben und Farbencombina-
tionen und das Missfallen an anderen geht, wie schon erwähnt,
auf physiologische Voraussetzungen zurück und ist nicht weiter
zu erörtern. Räumliche Grosse ist für die Verstärkung des Ein¬
druckes sehr wichtig, die Empfindung der Erhabenheit und
Majestät wird nur von räumlich grossen Objecten hervorgerufen.
Contraste in Farbe und Form sind für die Erhöhung des Reizes
sehr wichtig, freilich muss der Contrast im Stil bleiben, was
auch in der Natur stets der Fall ist.

Der Verfasser schliesst mit den Worten Vierkandt's: „Die
Armuth an ästhetischen Elementen ist ein nothwendiges Uebel
einer hohen, die seelische Energie für praktische und sittliche
Aufgaben absorbierenden Culturstufe." „Gewiss finden wir nicht
mehr die Zeit wie die Alten, unser ganzes Dasein ästhetisch zu
gestalten. . . . Dafür haben wir die Schönheit der Natur ent¬
deckt, und wenigstens die Menschen germanischer Rasse haben
darin, wie es scheint, einigen Ersatz gefunden."