Nr. 24.
Mittheilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins.
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Ein interessanter Beitrag zur Kenntnis alpiner Ortsnamen.*
Von Dr. Hans Modlniayr in Würzburg.
Giovanni Morelli (pseud. »Iwan Lermolieff), der 1891
verstorbene bedeutende Kunstkritiker, betrachtete als Haupt¬
aufgabe bei Bestimmung von Gemälden die peinlich genaue
Prüfung und Vergleichung von untergeordneten Einzelheiten,
wie Ohren, Finger u. s. w., ohne dass dabei der erste ästhe¬
tische Eindruck, sowie das auf dem Studium von Urkunden
beruhende historische Verfahren a limine abgewiesen werden
sollen. Lebhaft tadelt er aber die zu exclusive Anwendung
der beiden letztgenannten Methoden, denn unangenehm und
gewaltthätig wirkt die Ansicht der „impressionisti", dass
das, was man nicht auf den ersten Blick sehe, man über¬
haupt nicht mehr sehe, im Irrthum sei aber auch der fana¬
tische Anbeter der archivalischen Beweisstücke, wenn er
behaupte: „Sobald das Document sagt, dieses ,Abendmahl*
ist von Giotto, so mag es zwar von Andrea del Sarto sein,
aber man muss glauben, es ist von Giotto." In vielen Fällen
kann nämlich die Beweiskraft der Urkunden vernichtet
werden. Eine Abtei, z. B., vereinbart mit dem Titius Fresken
im Chor einer Kirche; inzwischen stirbt Titius; die Arbeit
geschieht von Cajus, und so ist das überbleibende Schrift¬
stück in gewisser Hinsicht falsch. Eine Gesellschaft bestellt
ein Bild von Perugino; dieser lässt es aber von einem Beiner
Schüler malen. Das Document existiert, entspricht aber nicht
der historischen Wirklichkeit. Warum nun diese lange Ein¬
leitung, die nicht zu der Ueberschrift dieses Aufsatzes zu
stimmen scheint? Einfach aus dem Grunde, weil Morellis
Regeln mutandis mutatis auch für die etymologischen For¬
schungen gelten. Auch hier haben die „impressionisti", die
lediglich das Gefühl sprechen Hessen, schon die curiosesten
Capriolen sich gestattet, von Dutzenden von Beispielen, mit
welchen wir aufwarten könnten, eitleren wir nur das gro¬
teske
carnem da vermibus
(das Fleisch gib den Würmern!),
welches
cadaver
gegeben haben soll statt
cadere
(fallen).
Auch mit jenen Pseudoetymologen können wir uns nicht
näher beschäftigen, die in ihrer Vorliebe für eine bestimmte
Sprache oder für ein bestimmtes Volk beispielsweise alle
französischen Wörter vom Griechischen ableiteten, z. B.
diner
von
Stmvüv
statt von
dis
-f-
junare, paresse
von
n&Qtaig
statt von
pigritia,
oder wie die sogenannten Keltomanen
behaupteten, im irdischen Paradies hätten Adam, Eva und
die Schlange keltisch gesprochen, denn das Keltische sei die
Ursprache.
Leicht kann auch der Sprachforscher in Irrthum ver¬
fallen, wenn er den Urkunden zu grossen Glauben beimisst.**
Man liest auf einer Karte des Lechthales „Cristalispitze"
und ist geneigt, da sich auch sonst in der Gegend zahl¬
reiche romanische Namen finden, in diesem stattlichen Gipfel
eine Rivalin des Monte Cristallo zu finden, bis sich auf
Befragen der Bergführer von Holzgau dieselbe ziemlich
prosaisch als „Griesthalerspitze" entpuppt und die falsche
Bezeichnung wahrscheinlich von einem wälschen Mappeur,
der die Leute unrichtig verstand, in die Originalaufnahme
eingetragen wurde.
Aufgabe des Erforschers der Orts-, Fluss-, Berg- und
Flurnamen ist es also in allererster Linie, sich genau zu
fragen: „Wie spricht der Einheimische das Wort aus?"
Erst auf Grund des gehörten Lautes dürfen Behauptungen
gewagt werden. Selbstredend ist, dass nur ausgezeichnete
Germanisten oder Romanisten zu sicheren Resultaten ge¬
langen. Ein gründlicher Kenner der beiden Sprachgruppen
ist nun Gymnasiallehrer Dr. August Kubier, der sich zu¬
gleich einer vorzüglichen phonetischen Schulung rühmen
* Dr. August Kubier, Berg- und Flurnamen der Gemeinde
Chamonix. Programm des k. humanistischen Gymnasiums Münner-
stadt, 1901.
** A. Prinzinger („Zur Namen-und Volkskunde der Alpen",
München 1890) plädiert geradezu für die Befreiung der Namen¬
forschung von den Fesseln der historischen Schule und citiert
„Berchtesgaden". Dies findet sich urkundlich als
Berchirchs-
(Bergkirchs)gaden, Petersgaden
etc., und das Volk sagt heute noch
richtig
Bevtehgüclen; Bertel
ist die Koseform von
Bert,
einem
Personennamen.
'■
kann. Hatte sich derselbe bisher hauptsächlich mit den Berg-
und Flurnamen des Allgäus* beschäftigt, Studien am Arl-
berg und im Paznaun gemacht und ausserdem der Ver¬
gleichung halber sich in Südtirol umgesehen, so gieng er
diesmal in das berühmteste Thal Savoyens, nach Chamonix.
In dieser Gegend wird ein Patois gesprochen, welches zu
einer selbständigen Sprachengruppe gehört, die unter dem
Namen des Francoprovenzalischen in die Wissenschaft von
G. J. Ascoli, dem Verfasser der grundlegenden Saggi ladini,
eingeführt wurde. Der gewöhnliche Tourist merkt hievon
freilich so wenig, als er den rhätoromanisehen Dialekt in
Ampezzo beachten würde, denn bei dem gewaltigen Fremden¬
durchzuge und der hiedurch bedingten Steigerung des Cultur-
niveaus sind die Tage jener altehrwürdigen Sprache gezählt.
Kubier hat nun nicht weniger als 800 Namen gesammelt,
von welchen die allerwenigsten auf den Karten verzeichnet
sind. Sehr erfreulich ist die Beigabe einer dem jetzigen
Stande der Lautphysiologie entsprechenden phonetischen
Transcription, die uns zeigt, dass gewaltige Unterschiede
das Lautsystem des Chamognardischen vom Schriftfranzö¬
sischen trennen. So wird, um nur ein Beispiel zu erwähnen,
der Anlaut in den Eigennamen Chamonix, Charlet, Charmoz
durchaus nicht wie im Französischen wie stimmtonloses
8
gesprochen, sondern genau wie das stimmtonlose englische
th
in Wörtern wie
think, tharik.
Daher waren für den Forscher
die Katasternamen in französischer Schrift wissenschaftlich
unverwertbar, und er konnte nur durch das Ohr bei den
Bewohnern der 25 Fractionen der Gemeinde Chamonix von
le Tour im Norden bis nach les Mossons im Süden des
Thaies sein Ziel erreichen. Da nun vielen Lesern der „Mit¬
theilungen" die Montblanc Gruppe ein wohlbekanntes Ge¬
biet ist und es manchem Alpenwanderer angenehm sein mag,
zu erfahren, wie der Col de Balme und die Flegere, der
Bossonsgletscher und die Aiguille de Charmoz zu ihren
Namen gekommen sind, theilen wir hier eine grössere Zahl
von jenen Berg- und Flurnamen mit, die sich auch auf der
Specialkarte finden, wobei wir freilich bedauern, die von
Kubier angewandte Transcription nicht beisetzen zu können,
da schon der Schlüssel derselben einen zu breiten Raum er¬
fordern würde. Der Leser möge also nochmal beherzigen,
dass die chamognardische Aussprache sich fast nie mit der
französischen auch nur im entferntesten deckt. So lautet
z. B. Le Chapeau im Patois der Gegend Z'
dape (d
= engl.
stimmloses
th, eau
= offenes
e),
Chamonix selbst ist
damounx,
das
i
mit einer eigentümlichen Nasalierung. Wenn nun das
französische Wort auf der Karte und das entsprechende des
Patois oft auf die gleiche romanische Wurzel zurückgehen,
so erklärt es sich einfach aus dem Umstände, dass beide
Sprachen der grossen romanischen Familie angehören. In¬
dem wir noch bemerken, dass ein Sternchen vor dem lateini¬
schen Etymon die vulgäre Form bedeutet, lassen wir unseren
zum Theile abgekürzten Auszug folgen:
Argenti
kre
(eine Gemeindefraction) von lat.
argentum +
-aria =
Silberbergwerk; Spuren eines solchen finden
sich noch daselbst.
Col de Balme, „Felsenhöhlenpass" von lat.
collum
und
*balma,
Höhle, überhängender Fels.
Les Bois, ein Weiler, „Holz, Wald" von lat.
buxus;
davon
der Glacier des Bois.
LesBossons, ein Weiler, vermuthlich von lat.
buocus
+
-onem,
bedeutet in diesem Falle „kleines, aber gut entwickeltes
Tannenbäumchen"; davon der Glacier des Bossons.
Col des Chenalettes = Pass der Rinnen, von lat.
canalis
= Stromenge, Schlucht, eine Art Loch.
Le Chapeau, lat.
cappellw,
diese Felsbildung heisst so wegen
der Aehnlichkeit mit einem Hut.
Le Capucin von lat.
cappa,
Mantel, Kutte* wegen der
Aehnlichkeit mit einem Kapuziner.
* „Tannheimer Berg- und Flurnamen", Allgäuer Geschichts¬
freund, Kempten 1897, S. 69; „Das Tannheimerthal", Z. A.-V.,
S. 143.
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