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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.28 (1902)
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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins.

Nr. 8.

Noch eine kurze Straßenstrecke, dann klimmen wir den
Fußsteig hinan, der zum oberen Dorfe führt, und betreten
die altrenommierte Wirtschaft „zum Kabis".

Winterlich öde ist es im Hause und der Speisesaal im
ersten Stock ist kalt und kahl. Behaglicher aber ist es
unten in der getäfelten Bauernstube, die durchwohnt und
durchwärmt das Mittagmahl schmackhafter macht.

Vilnöss ist ein prächtiger und ruhiger Sommerfrisch¬
platz; hochgelegen, waldig und doch sonnig, luftig und
frisch, hat es eine herrliche Umgebung, die zu kleineren
und größeren Partien einladet. Der Ruefenkogel bildet den
Abschluß des Tales und die trotzigen Geislerspitzen, die so
unnahbar sich erheben, so schauerlich schön. Dort oben ist
eine andere Welt als hier im grünen Tal, die Welt der Öde.
Doch Form und Ruhe, Weitblick und Wagemut ziehen auch
in solche Welten den Menschen empor, den dann, wenn
auch nur für Augenblicke, das Gefühl des freien Adlers
überkommt gegenüber dem kriechenden Zeuge des Tales.
Man verdamme ihn nicht, den Felskletterer mit sicherem
Auge und stählernen Sehnen, und so viele Opfer auch schon
solche Felstürme forderten, ihre Eroberung ist doch ein Ge¬
winn und hoheZiele sinddesEinsatzesvonMenschenlebenwert.

Von der großen Kirche aus mit dem mächtigen frei¬
stehenden Turme ist ein schöner Blick gegen den Abschluß
des Tales. Noch schöner aber ist es, ein Stück talein zu
wandern. Dort erschließt sich des Tales Schönheit noch
mehr. Tief unten, sowie heroben am Berge liegen schmückende
Häuser, der Bach rauscht aus dem Grunde und die Fels¬
riffe der Vilnösser und Grödener Dolomitgipfel ragen bleich
über den dunklen Wäldern empor. Dort drüben geht es zur
Raschötzalpe mit ihrer wunderbaren Fernsicht und in das
einzig schöne Grödenertal. Jetzt ist dieser Weg durch Schnee

versperrt, ebenso wie der touristisch lohnende Wurzenpaß
zwischen Geislerspitzen und Peitlerkofel in das weite Enne-
berg hinüber.

Der Sonne allmähliches Sinken hat kalten Wind im Ge¬
folge, der von den Spitzen herabfährt, wo der Winter noch
ungebrochen herrscht. So bedeutet das frische Wandern
talaus ein Wärmen der Glieder. Noch arbeiten die Leute
an jener Wegbiegung, wo eine kleine Muhre die Straße über¬
zog, aber schon klingt ihr Hammerschlag matter, und müde
streben die begegnenden Lastpferde ihrem Stalle zu. Früh
schon sinkt hier die Sonne hinter den Bergen hinab und
der Abend treibt zum Neste. Auch wir eilen etwas müde
die Straße entlang und nur der Anblick des Gufidauner
Schlosses auf der Felswand heißt uns noch kurz verweilen.
Aber auf der breiten Straße im Eisacktale wandeln wir
wieder sachter dahin. Unbelästigt von Wind und Staub
freuen wir uns der sprossenden Bäume und der Blumen und
Gräser, die sich vereinzelt noch, aber doch schon energisch
zu neuer Blüte anschicken.

Du bist kurcer, ich bin langer
also strittents üf dem anger
bluomen unde cle.

So singt Leuthpld von Säben, der frohe Sänger von
Mai und Liebe. Sein Bild aber im alten Saale des Lamm¬
gasthauses in Klausen erinnert uns daran, daß trotz Berg¬
schnee und winterlichen Talwinden und trotz Abendlicht
und Wärme der Gaststube auch in diesem Jahre die Zeit
nicht mehr ferne ist, da der Wettstreit der Blumen und
Blüten beginnen muß und jener erfreuende Eroberungszug,
der bis in die fernsten Winkel der Täler vordringt, bis ihm
Fels und Eis trotzig Halt gebieten.

Die Hochalpenunfälle 1901.

C. Lawinenbildung

war es, die am 8. Juli das schwere Unglück an der Jung¬
frau herbeiführte. Es lag außerhalb jeder Berechnung und
Voraussicht, daß an der Stelle beim Rottalschrund eine
Lawine herunterkommen und die aus einem Herrn, einem
Führer und einem Träger bestehende Partie verschütten
könne. Als Glück ist es anzusehen, daß wenigstens der
Führer noch gerettet wurde. Die betreffende Stelle scheint
im vergangenen Jahre überhaupt nicht ganz sicher gewesen
zu sein. Drei Führerlose wollten zur Osterzeit die Jungfrau
unter teilweiser Benützung von Skiern besteigen. Sie waren
bis zur besagten Stelle gekommen, als rasch hintereinander
zwei Staublawinchen auf die Touristen von oben herunter¬
fielen und sie zur schleunigen Umkehr veranlaßten. Diese
im Frühjahre vorhandene Gefahr war auch im Juli noch
nicht ganz geschwunden.

D. Blitzschlag.

Tod durch einen Blitzschlag gehört zu den unberechen¬
baren Zufällen, denen man in der Ebene wie in den Bergen
ausgesetzt ist. Bei dem S. 172 dieser Blätter gemeldeten Un¬
fälle auf dem Pflerscher Tribulaun (20. Juli), wobei ein Tourist
und ein Führer vom Blitze getötet wurden, würde ein fahr¬
lässiges Verschulden nur dann vorliegen, wenn die Gewitter¬
bildung am Vormittage mit großer Wahrscheinlichkeit vor¬
auszusehen gewesen und dennoch die Tour angetreten
worden wäre.

E. Steinfall.

a) Auf dem Großen Spannort wurde am 11. August ein
Führer, während er für seinen Herrn Stufen schlug, von
fallenden Steinen getroffen und erheblich verletzt.

b) Am gleichen Tage hatte eine aus fünfzehn jungen Genfer
Turnern bestehende Gesellschaft eine Besteigung der Aiguille
du Tacul unternommen. Während des Aufstieges, der unter
Leitung eines Führers stattfand, brach ein Gewitter aus.
Vom Blitze losgelöste Steine kamen von der Höhe herab
und schleuderten einen der Turner in die Tiefe auf das Eis¬
meer, wo er zerschmettert liegen blieb.

Von Gustav Becker in Karlsruhe.
(Schluß.)

Auch hier soll nicht unerwähnt bleiben, daß von den
8 Unfällen nur 2 auf eine Schuld des Führers zurückzuführen
sind, 2 von den Touristen verschuldet waren und der Rest
durch nicht vorherzusehende Ereignisse verursacht worden ist
(siehe nebenstehende Tabelle).

Für das Jahr 1900 waren in dieser Tabelle 34 Fälle zu
verzeichnen mit 39 Umgekommenen. Das verflossene hinter¬
läßt sonach ein verhältnismäßig günstiges Ergebnis; die Zahl
der Hochalpenunfälle ist um 10, jene der Umgekommenen
um 15 gesunken. Hervorgehoben werden muß die Tatsache,
daß auch diesmal wieder die meisten Abstürze beim Rück¬
wege geschehen sind, ein Beweis für die größere Gefährlich¬
keit des Abstieges. Ebenso gibt der Umstand zu denken,
daß bei Seilsicherung nur 6 Unfälle vorgekommen, 4 durch
Seilsicherung hätten vermieden werden können und 14 Un¬
fälle durch Absturz vom Fels verursacht sind. Die über¬
wiegende Mehrzahl entsprang subjektiver Gefahr, d. h. bei
größerer Achtsamkeit wäre sie nicht eingetreten. Selbst wenn
man die Fälle Nr. 15 (Ausbrechen eines Griffes) und 24 (Ab¬
sturz und Erfrieren) den durch objektive Gefahren ent¬
standenen zuzählt, verbleiben immer noch 18 Fälle (sub¬
jektive Fährlichkeiten) gegen 6 durch objektive Gefahren
hervorgerufene.

Daß von den 27 halbalpinen Unfällen mit einer einzigen
Ausnahme alle subjektive Gefahr zur Wurzel haben, ist
bereits erwähnt worden. Mit Hinzurechnung der 25 bei
diesen Unfällen und der 4 bei Wintertouren Getöteten er¬
höht sich die Gesamtzahl auf 53, gewiß ein nicht zu hoher
Prozentsatz von all den vielen Tausenden, welche im Laufe
des Jahres die Berggebiete aufsuchen und Berge besteigen.

Zur Verhütung der Unfälle ist neuerdings manches ge¬
schehen; so hat der Schweizer Alpenklub an die Verleger
und Redakteure der Fremdenführer für die Schweiz eine
zweckmäßig verfaßte Warnung und Mahnung zur Vorsicht
gesandt mit der Bitte, dieselbe in die Einleitung der Reise¬
bücher aufzunehmen. Noch erfolgreicher dürfte sich der Auf¬
ruf erweisen, den der alpine Verkehrsausschuß in Wien hin¬
sichtlich der Wintertouren auf Rax und Schneeberg erlassen