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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.30 (1904)
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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins.

Nr. 9.

begleitenden St. Galler und Appenzeller Höhenzügen; un¬
zählige größere und kleinere Ortschaften beleben das an¬
mutige Bild; dann schwingt sich die Appenzeller Bergwelt
zum vielgipfeligen, zerklüfteten Säntisstocke auf, daneben
erheben sich die Churfirsten und die malerischen Palfrieser-
berge; weiterhin gleitet das Auge das Rheintal aufwärts
bis gegen Chur. Nun kommt das Glanzstück der außer¬
gewöhnlich malerischen Rundschau, nämlich der gesamte
Rätikon vom Dreischwesternberge bis zur Sulzfluh „und
sieh, es fehlt kein teures Haupt". Die Bergesketten, welche
das Rheintal vom Bregenzerwalde scheiden, bilden mit ihren
mannigfach geformten, stellenweise hochpitoresken Gestalten
den Abschluß gegen Osten. Im Vorlande erblickt man alle
die sauberen, an die Berglehne angebauten Ortschaften von
Bregenz bis Feldkirch. Und das alles für einen Weg von
l 1 ^ St. von einem 668 m hohen Berglein! Herz, was begehrst
du noch mehr?

Eine weitere höchst idyllische Wanderung ist die über
den Schellenberg. Schellenberg? In ganz Vorarlberg und
dem benachbarten Liechtenstein existiert kein Schulkind,
welches nicht von den ruhmvollen Kämpfen der Vorarlberger
gegen die Franzosen auf diesem Berge wüßte; fragt man
aber unter den Erwachsenen herum, ich nehme ausdrücklich
auch die Mitglieder des verehrlichen D. u. 0. Alpenvereins
nicht aus, so war keiner oben.

An einem wolkenlosen Apriltage des Jahres 1901 ging
ich von Feldkirch über die untere Illbrücke nach Tosters,
besuchte das uralte Kirchlein St. Cornelius, bewunderte die
von einem Schutzgitter umfriedete tausendjährige Eibe und
wanderte dann bei einem einsamen Försterhäuschen vorbei
hinauf nach dem Rücken des Schellenberges. Kniehohes
Heidekraut, Heckenrosen, üppige Brombeerranken, Efeu
und mächtig große Farnwedel bedecken den Boden. Weiter
oben tauchte ich in den Jungwald. Kein Laut ertönt weit
und breit als der Ruf des Hähers und der Wildtaube, keine
Ansiedelung ist zu sehen, nur die entzückendste Wildnis
umgibt uns. Das breite Plateau stürzt gegen Osten in un-
ersteiglichen Wänden ab, am Rande derselben führt der
Pfad dahin und gewährt einen wahrhaft großartigen Anblick
des Dreischwesternmassivs mit der Kühgratspitze, 2124 m.
Gerade gegenüber unserem Standpunkte erhebt sich die wilde
Westseite des Gebirgsstockes, 1700 «i, über die Talsohle in
Steilwänden zum gezackten Kamme aufsteigend. Tief ein¬
gerissene Rinnen, durch welche fortwährend kleinere und
größere Steinsalven herabsausen, durchfurchen die viele
Stunden lange Felsenmauer; durch einen großen Teil der¬
selben zieht sich der als feine weiße Linie sichtbare Fürsten¬
steig gegen den Alpenkurort Gaflei herab. Über das freund¬
lich gelegene Mauren erreichte ich die Haltestelle Nendeln
und kehrte am Abend nach Feldkirch zurück. Es ist der
geographischen Lage des Berges entsprechend, daß man von
demselben auch die Appenzeller und Palfrieserberge sieht,
doch gruppieren sich dieselben bei weitem nicht so malerisch
als vom Kummenberge.

Von Mitte Mai an — das gilt aber nur für sogenannte
frühe Jahre, sonst wird man besser tun, bis Anfang Juni zu
warten — läßt sich von der Station Rankweil oder auch
von Feldkirch aus eine Alpentour in mittlerem Stile antreten,
welche nur selten unternommen wird, obgleich sie zu den
schönsten des Frühsommers gezählt werden muß. Es ist
dies die Gratwanderung vom Muttkopf öder Satteinserkulm
nach dem Hochgerach. Der ganze Kamm wird bei seiner
stark gegen Süden geneigten Lage sehr früh schneefrei; die
Nordflanke des Gebirgszuges mit ihren überaus steilen Hän¬
gen macht durch die Bedeckung mit Schnee und Eis den
Eindruck, als wenn man sich im Ziller- oder Ötztale befände;
während die Alpenwiesen der Südseite schon mit den rei¬
zenden Lieblingen Floras bedeckt waren und Anemonen,
Crocus, mehrere Aurikelarten und Soldanellen in ganzen
Büscheln beisammenstanden, hatte ich alle Mühe, vom nörd¬

lich gelegenen Laternsertale aus mit Eispickel und Steig¬
eisen durch eine der Rinnen den Kamm zu erreichen. Wer
aber von Übersaxen ausgeht und sich immer hübsch auf
der Südseite hält, kann die ganze Tour .mit einem guten
Spazierstocke unternehmen. Schon von Übersaxen, 900 m,
einer sehr beliebten Sommerfrische, aus, genießt man einen
entzückenden Blick über die Bodenseelande, das Rheintal,
die Säntis- und Churfirstengruppe sowie einen großen Teil
der Rätikonkette. Vom Muttkopf, 1400 m, aus treten viele
Gipfel des Bregenzerwaldes, des Klostertales, der Arlberg-
gegend, der Ferwall- und Süvrettagruppe zu den oben ge¬
nannten Bergen hinzu; vom Hochgerach, 2004 «?, endlich
erstreckt sich die Rundschau außerdem noch auf die All-
gäuer und Lechtaler Gipfel, besonders schön sind von diesem
Berge auch die Talaussichten.

Vom Hochgerach steigt man am besten über Alpen¬
wiesen und durch kleine Waldbestände nach Thüringerberg
ab und gewinnt über Thüringen und Ludesch die Bahn¬
station Straßenhaus.

Auch für jene, denen diese Tour zu anstrengend vor¬
käme, obgleich jeder einigermaßen gute Fußgeher sie von
Übersaxen aus in einem Tage bequem ausführen kann, weiß
ich einen trefflichen Ersatz. Solche zweigen von Frastanz,
der ersten Station von Feldkirch der 111 aufwärts, nach Sat¬
teins . ab und gehen, immer durch Hochwald, zuletzt über
Wiesen nach dem 756 m hoch gelegenen Düns. Von hier
aus genießt man einen ebenso umfassenden als malerischen
Überblick über die ganze Rätikonkette vom Dreischwestern¬
berge bis..zur eisumgürteten Scesaplana und der schlanken
Zimba. Über Schnitts, Thüringen und Ludesch geht man
dann nach der ob genannten Station Straßenhaus.

Von Anfang Mai an entfaltet auch der Hohe Frassen,
1981 m, seine Schönheit; wenn auch die Fernsicht nicht ganz
an die des Hochgerach heranreicht, so sind dafür die Tal¬
bilder noch schöner als vom genannten Gipfel. Wer seine
Wanderungen in den Juni verlegt, der wird,sich bereits ins
Montafon vorwagen können. Hier ist es besonders das Hoch¬
plateau, welches sich zwischen dem unteren Klostertale und
dem Illtale erhebt, auf welches ich nachdrücklich aufmerk¬
sam machen möchte. Die demselben aufgesetzten Kuppen
des Mittagsteins, 2097 m, des Itonskopfes, 2081 m, und Davena-
kopfes, 1884 m, eignen sich für Frühsommertouren in hervor¬
ragendem Masse. Die Aussicht von diesen Gipfeln zeichnet
sich durch große Mannigfaltigkeit aus, indem Berg- und Tal¬
landschaften angenehm wechseln. Im Norden erblickt man
die lange, vielgestaltige Reihe der Klostertalerberge, im
Osten das Ferwallgebiet, im Süden die Süvrettagruppe und
schöner als von irgend wo anders her den gesamten Rätikon.

Zu den empfehlenswertesten Wanderungen im Früh¬
sommer gehört auch eine Überschreitung des Arlberges.
Ganze Strecken sind im Juni mit den herrlichsten, blühenden
Alpenrosenbüschen bedeckt, es weht eine erfrischende Luft
dort oben, wie man solche im Hochsommer nur über 3000 in
antrifft.

Ich will hier betonen, daß..man in normalen Jahren von
Ende Mai an so ziemlich alle Übergänge in der Alpenregion
Vorarlbergs ohne besondere Mühe ausführen kann, nur muß
man trachten, die Schneefelder in den Morgenstunden zu
überschreiten; dann trägt der Schnee noch vortrefflich und
man wird kürzere Zeit brauchen als im Sommer auf den
steinigen Wegen.

Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß der An¬
blick der Landschaft auf der Nordseite der Kämme in den
mittleren Lagen zwischen 1800 und 2200 m den eigentlichen
Charakter einbüßt; die schon in Menge auftretenden aperen
Flecken geben dem Bilde den Eindruck des Gescheckten,
welcher Umstand der Schönheit ungemein abträglich ist.
Über 2200 m aber ist die Schneedecke bis Ende Juni eine
zusammenhängende; das eigentliche Hochgebirge übt eben
zu jeder Jahreszeit seinen überwältigenden Reiz aus.

Bau und Bild Österreichs.

Von E. Richter in Graz.

Der im August 1903 in Wien versammelte IX. internatio¬
nale Geologenkongreß hat die Literatur über die Ostalpen durch
wertvolle Gaben bereichert, deren in diesen Blättern zu ge¬

denken eine Pflicht gegenüber jener großen Zahl von Mitglie¬
dern unseres Vereins ist, welche, ohne Fachleute zu sein, doch
den lebhaften Wunsch liegen, über den Bau des Gebirges Auf-