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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.31 (1905)
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Mitteilungen des Deutschen und österreichischen Alpenvereins.

Nr. 7.

säumt, führt an dieser Talseite bergauf; mit eng zu¬
sammengebauten Häusern liegen auf breiter, frucht¬
barer Bergterrasse die Orte Viarago (Vierach), Mala
und Sta. Orsola (Aichberg), die ohne Höhenverlust
durchwandert werden. Von der Sonne reich be¬
strahlt, gegen Norden geschützt, findet sich hier bis
über 800 m körn- und weizentragendes Ackerland.
Der Blick talaus ins Suganertal und auf die blauen
steilen Berge in seinem Süden übertrifft fast den
auf die feingeschwungenen Linien der östlichen Fer¬
sentaler Höhen und die ihnen vorgelagerten, schluch¬
tenreichen Wiesenhänge, wo weiße Kirchlein grüßen
und altersgeschwärzte Bauernhäuser unter uralten,
knorrigen Kastanien und Nußbäumen hervorlugen.
Hier auf der italienischen Seite herrscht, wie schon
gesagt, die typisch-italienische Art des eng zusam¬
mengebauten Dorfes mit großen, ungetünchten Stein¬
häusern, wenig Fenstern, ohne Hausgarten, nur durch
eine schmale Gasse von dem nächsten Hause ge¬
schieden, wenig einladend von außen, schmutzig im
Inneren, trotz des überall quellenden frischen Wassers.
Aber die Menschen, welche sich vor den Häusern
herumtreiben, besonders die spielenden Kinder, zeigen
oft das für deutsche Abstammung zeugende Blond.

Sta. Orsola, das letzte, höchstgelegene der vier
italienischen Dörfer im Fersentale, wird wohl später
noch von sich reden machen, wenn seine den Le-
vicoer Quellen ähnlichen Mineralwässer erst weiter
bekannt sind und Kranke zum Gebrauche dieses
Heiltrunkes an Ort und Stelle veranlassen. Einst¬
weilen ist das neuerbaute Badehaus: „Stabilimento
Sta. Orsola", ein echtes Zeugnis geschmackloser Bau¬
weise, das die kurgemäße Langeweile seiner bis jetzt
nur italienischen Kurgäste auf das wirksamste unter¬
stützt. Die beiden Quellen, natürlich ein Stark¬
wasser und ein Schwachwasser wie in Vitriolo, sind
von starkem Eisen-, Arsen- und Phosphorgehalt und
außerordentlich ergiebig. Das zur Trinkkur ge¬
brauchte Starkwasser sieht aus wie alter, goldener
Madeira. Aber wehe dem, der es im guten Glauben
an das Äußere als nicht Kranker trinkt. Noch
stundenlang wird er den Tintengeschmack und den
Phosphorger ach im Munde nicht los; der Madeira¬
schein hatte arg betrogen! Das Schwachwasser,
welches das Badewasser liefert, gleicht im Aussehen
hellem Rheinweine und soll angeblich stärkeren Eisen¬
gehalt haben. Ob beide aus einer Quelle stammen,
vermochten wir nicht zu ergründen, wurden aber
durch eine Konkurrenzneiderzählung über die Her¬
kunft des Vitrioloer Schwachwassers in dieser Hin¬
sicht mißtrauisch. Auf jeden Fall sind aber die
beiden Mineralwässer von Sta. Orsola stark in ihren
chemischen Bestandteilen und die Quellen sehr er¬
giebig, wie auch der Laie am Geschmacke derselben
und der Sorglosigkeit ihres Verbrauches sehen kann.
Eine wesentliche Unterstützung der Kur dürften die
einfache Lebensweise und die reine Bergluft bilden.

Hinter dem „Stabilimento Sta. Orsola", wo der
Karrenweg aufhört und ein steiler Fußpfad zum
Bette des Fersenbaches hinabführt, fällt der Blick
auf eine ganze Anzahl schöner Erdpyramiden, z. T.
mit plattem Steindeckel (ähnlich, aber kleiner wie

die am Ritten bei Bozen), welche das Wasser hier
ausgewaschen hat. Dort unten, am Bache, wo der
provisorische Fußweg sich mit dem in seinem un¬
teren Teile von der ITersen zerstörten Talsohlenwege
vereinigt, trafen wir zum ersten Mal im Tale einen
dort eingesessenen Deutschen, einen alten Mann, beim
Holzholen. Nie werde ich die ehrliche Freude ver¬
gessen, die aus seinen Augen strahlte, als er sich
auf einmal mit einem „Grüß Gott" aus seiner Arbeit
aufgestört sah, und mit der er uns wieder und wieder
versicherte, wie wohl es ihm täte, deutsch zu hören;
denn die „Mocheni" (Ton auf der ersten Silbe, Spitz¬
name für die Deutschfersentaler) sprächen ja keines.
Nur mit Mühe vermochten wir ihn zu überzeugen,
daß er gut deutsch rede und wir ihn deutlich ver¬
ständen. Es scheint in den Mocheni so eine gewisse,
ganz ungerechtfertigte Scheu vor dem Mißverstanden¬
werden, vor dem Spotte zu liegen, der sie verschlossen
macht. Denn der allerdings etwas breite und sehr
vokalreiche Dialekt ist, wie wir in der folgenden
Zeit reichlich Gelegenheit hatten zu hören, für süd¬
deutsche Ohren leicht verständlich und hat besonders
eine Hinneigung zum Alemannischen, die wohl den
Sprachforscher auf den Zusammenhang dieses
deutschen Volksrestes mit den deutschen Alemannen
bringen dürfte, zumal nach der Schlacht von Zülpich
496 ein Teil dieser gen Süden dem Ostgoten Theo¬
dorich von Bern nachgezogen sein soll. Für den
wissenschaftlich Forschenden ließen sich deutlich alte
Spuren eines Sprachstammes finden, fiel doch sogar
uns Laien während eines verhältnismäßig kurzen
Aufenthaltes manches Gemeinsame auf, wie z. B. das
im Schwabenlande, Baden, Hessen bis in die Pfalz
und das Elsaß hinüber gebrauchte Wort Keste oder
Käschte für Kastanien; dann die in manchen dieser
Länder beliebte Aussprache des w wie & (Löb =
Löwe), des a wie o (Hos = Hase; losse — lassen)
finden wir genau so noch bei den seit 1400 Jahren
vom deutschen Vaterlande getrennten, rings von
Italienischredenden umgebenen Mocheni. Das er¬
leichtert für den aus eben diesen deutschen Gegen¬
den Stammenden natürlich das gegenseitige Ver¬
ständnis. Aber auch ein Norddeutscher wird sich
mit dem Volke in dem Deutsch-Fersentaler Gebiete
immer noch weitaus besser verständigen können als
mit den dort einen ebenso schwer zu meisternden
Dialekt sprechenden Italienern.

Die letzte Strecke vor dem Talschlusse des Fer¬
sentales bei Palai, einerlei, auf welchem Wege sie
begangen wird, dürfte wohl als die romantischste
gelten. Die bei Sonnenschein und längerer Trocken¬
heit hier als munterer Bergbach im Walde und
Schluchtschatten plätschernde Fersen zeigt sich nach
Gewitter oder Regen dann gerade in dieser Enge
in ihrer ganzen Wildheit. Tief bis in die Baum¬
kronen hingen die Nebel herab, die lahnenreichen
Abhänge der Talschlucht waren wie in leiser, steter
Bewegung, in der Fersen tosten polternd die mit¬
gerissenen Steine über die Strudel, dazu als einziges
Zeichen menschlichen Lebens, so weit Blick und Ohr
reichten, das krachende Splittern eines Baumes, den
ferne im Walde ein Holzfäller mit seiner Axt be-