Nr. 21.
Mitteilungen dos Deutschen und österreichischen Alpenvereins.
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Fortsetzung des Hauptkamms der Tauern, wo nach
der Einsenkung des Kaiser Tauern sich die Granat¬
spitze erhebt, von der der Seitenast der Gruppe, auf
dem wir stehen, seinen Ausgang nimmt, ein ver¬
witterter Felsengrat mit weiten Geröllfeldern, kleinen
Gletschern, steilen Hängen nach beiden Seiten. Und
bei der Einsattelung des Velber Tauern beginnt das
zweite Schaustück der Aussicht: das breite Gletscher¬
massiv der Venedigergruppe, überragt von den Hoch¬
gipfeln des Großvenedig er s, des Großen Geigers, der
Dreiherren- und der Röthspitze. Und wie viel gibt
es sonst noch zu schauen in der Nähe und Ferne!
Dort im Norden, zwischen den Lücken der Tauern-
pässe hindurch, die bald massigen, bald gezackten
Steinwälle der Kalkalpen — es müssen wohl die
Leoganger Steinberge und das Kaisergebirge sein —,
im Südwesten die Rieserfernergruppe, im Südosten
die Schobergruppe und zwischen beiden, über die
niedrigeren Züge der Defereggeralpen hinweg, die
Zinnen der Dolomiten.
Doch ein nahendes Gewitter mahnt zum Abstiege;
es ist 12 U. 30, nur eine kurze halbe Stunde Rast
und Umschau war uns vergönnt gewesen. Wieder
geht es, zunächst auf dem beim Aufstiege benützten
Wege, über den Gletscher, der inzwischen noch
weicher geworden ist und uns bei jedem Schritte
bis zu den Knien einsinken läßt. Etwas südlich
von dem Punkte 2902 der Alpenvereinskarte („Mun-
tanitzkopf") werden die nach Osten hinabziehenden,
mäßig steilen Schneefelder betreten, es folgt ein
schutterfülltes Kar und dann steile Rasenhänge, über
welche schließlich ein Viehsteig zur Alpe Tinkl-Eben
hinableitet (an 2 U. 50). Nach einer halben Stunde
Rast geht es weiter auf dem Tauernwege über die
steile Stiegenwand, die nach den vorausgegangenen
Mühen nicht eben willkommen ist, und hinab nach
Kais (2 St.), wo die müden Glieder in Groders Glockner-
wirtshaus wohltuende Erquickung und Ruhe finden.
Eine wesentliche Verringerung der Mühen, mit
denen die hohen Genüsse der Muntanitzbesteigung
bis jetzt noch erkauft werden müssen, würde es
freilich bedeuten, wenn eine baulustige Sektion sich
entschließen wollte,''den Aufstieg durch Errichtung
einer Unterkunftshütte abzukürzen. Ein passender
Platz würde sich gewiß auf der Oberen Steineralpe,
etwa in der Nähe des Westrands des Gradötzkeeses,
finden lassen; und der Bau des Zugangswegs würde,
da derselbe bis zur Äußeren Steineralpe jetzt schon
als breiter Reitweg hergestellt wird, verhältnismäßig
wenig Kosten verursachen. Eine solche Hütte würde
zugleich für die Besteigung des Nussing, des Gradötz,
der Kendl- und der Bretterwandspitze ein vorzüg¬
licher Stützpunkt sein und auch einen interessanten
und nicht weniger aussichtsreichen Übergang von
Windischmatrei nach Kais, als der über das Matreier
Törl ist, ermöglichen. Jedenfalls würde hierdurch
der Touristenwelt ein Gebiet erschlossen, das bisher
noch keine seiner Schönheit und seinem Reichtum
an Abwechslung und an großartigen Ausblicken ent¬
sprechende Würdigung gefunden hat.
Die Vinsehgaubahn.
Von Dr. W. v. Walthor in Bozen.
Einer der ältesten historischen Verkehrswege ist seit kurzer
Zeit wenigstens in seinem ersten Teile dem großen Verkehre
erschlossen worden. Es ist der breite Talweg von Meran auf¬
wärts durch das Vinschgau über die Malserhaide und dann ab¬
wärts zum Inntale, der schon im Altertum eine für den Handel
und militärisch wichtige Verbindungsstraße zwischen Deutsch¬
land und Italien gebildet hat. Die im Sommer eröffnete Bahnlinie
Meran—Mals soll die erste Teilstrecke eines neuen Schienen¬
wegs sein, der nicht nur als zweite Verbindungslinie zwischen
Nord- und Südtirol, sondern auch als Teil einer internationalen
Koute in Betracht kommt. Jene hervorragende Bedeutung aller¬
dings, welche die Vinschgaubahn im Zuge der vom genialen
Schweizer Bautechniker Guyer-Zeller geplanten Orient¬
bahn gewonnen hätte, wird sie nimmermehr erreichen können.
Dieses wahrhaft großzügige Projekt des Erbauers der Jungfrau¬
bahn, durch das eine normalspurige Schienenverbindung über
den Albula- und Ofenpaß durch das Vinschgau quer durch ganz
Tirol über das Suganertal nach Venedig und somit eine dem
großen europäischen Orientverkehre dienende Bahnlinie ge¬
schaffen worden wäre, fand bei der österreichischen Kegierung
leider nicht jenes Verständnis, das bei der hohen Bedeutung
desselben wohl hätte vorausgesetzt werden können. Nach seinem
Scheitern erfolgte bekanntermaßen der schmalspurige Ausbau
des Bahnnetzes der Ostschweiz und das Höchste, was nunmehr
seitens der österreichischen und schweizerischen Verkehrsinter¬
essenten angestrebt werden kann, ist die möglichst beschleu¬
nigte Herstellung von Verbindungen zwischen der Vinschgau¬
bahn und dem schweizerischen Bahnnetze, welche infolge der
Differenz zwischen der Normalspur bei dor Vinschgaubahn und
der Schmalspur bei den ostschweizerischen Bahnen zwar inter¬
nationale Bedeutung nicht mehr besitzen können, jedoch trotz¬
dem bei den vielfachen Wechselbeziehungen der auf derselben
wirtschaftlichen Grundlage, dem Fremdenverkehre, fußenden
Länder von der preßte« Wichtigkeit .sind.
Weit zurück reichen die Bestrebungen, das in so vielen
Beziehungen interessante Vinschgau, welches auch wirtschaftlich
soviel des Verwertbaren besitzt, durch eine Bahnverbindung zu
erschließen. Auch der beunruhigende Gedanke des Versagens
der einzigen Bahnverbindung zwischen Nord- und Südtirol, der
Brennerlinie, das infolge von Elementarkatastrophen seit ihrem
Bestehen leider zum öfteren schmerzlich empfunden wurde,
drängte darauf hin, eine zweite Schienenverbindung als Parallel¬
linie des Brenners zu schaffen. So war denn der Bau der Linie
Meran—Mals—Landeck seit jeher der einmütige Wunsch des
ganzen Landes Tirol, welcher mit der den Tirolern im Blute
liegenden Zähigkeit und Hartnäckigkeit immer wieder erhoben
wurde. Aber es ist überall gesorgt, daß nicht alle Blütenträume
reifen. Das Ergebnis der jahrzehntelangen Bemühungen aller
Verkehrsinteressenten des Landes ist vorläufig die
60 km
lange
Bahnlinie Meran—Mals, die am 1. Juli dos heurigen Jahrs unter
außerordentlichen Feierlichkeiten eröffnet wurde. Bleibt nun
derzeit auch nur eine Bahn von lokaler Bedeutung übrig, so
führt sie doch in landschaftlich so reizvolle und interessante
Gegenden, daß sie auch in dieser, man könnte sagen verküm¬
merten Gestalt alsbald eine bedeutende Verkehrsentwicklung
finden wird, wie dies auch die kaum geahnte Frequenz der
ersten Wochen beweist.
Der vorzüglichste Verkehrsfaktor der neuen Bahn ist selbst¬
verständlich der Fremdenverkehr und speziell der Touristen¬
verkehr. Fast von jeder Station der Bahnlinie zweigen touri¬
stisch interessante und ergiebige Seitentäler ab, die in die
bekanntesten Gruppen der tirolischen Hochgebirge führen.
Welche außerordentliche Bequemlichkeit aber diese Bahn für
den Hochtouristen bietet, wird derjenige zu beurteilen wissen,
der bisher auf staubiger Landstraße in ermüdender, endloser
Wagenfahrt den Ausgangspunkten der Gebirgstouren im Vinsch¬
gau zugestrebt ist. Die Fahrt von Meran, wo der von Süden
Kommende übernachten mußte,
bis
Trafoi erforderte mit der
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