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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.32 (1906)
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Nr. 21.

Mitteilungen des Deutschen und österreichischen Alpenvereins.

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Ersteigung des Hauptgipfels der Gruppe, des Piz Sesvenna, 3221 m,
und weiters lohnende Übergänge in die berühmten Touristen¬
stationen des Engadin, nach Schuls, Vulp'era, Tarasp, vermittelt.
Von der Station Schluderns-Glurns beginnt die Bahn die
letzte große Talstufe des Vinschgaus, die durch die Malserhaide
gebildet wird, hinanzusteigen; sie findet alsdann in der End¬
station Mals ihren Abschluß. Die Situation am Fuße der Malser¬
haide, die sich wie ein Riegel quer durch das breite Tal schiebt,
schafft einen gleichsam unwillkürlichen Anreiz, dieses Hinder¬
nis zu durchbrechen und den Übergang nach Norden zu suchen.
Werden auch die landschaftlichen Eeize der Maiser Gegend erst
durch die Fortsetzung der Bahn über die Malserhaide restlos
erschlossen werden können, so bietet doch auch schon das alte
Örtchen Mals ungemein viel des Schönen und Anziehenden.
Beiläufig in der halben Höhe der letzten, mächtigsten Talstufe
gelegen, bietet es schon einige Fernblicke auf das breite, wellen¬
förmig gegliederte Tal und die Ferner der Ortlergruppe, die sich
sodann einige Wegstunden oberhalb Mals zu unvergleichlicher
Schönheit entfalten. Vom Dorfe St. Valentin erstreckt sich das
fast ebene Plateau der Malserhaide mehr als eine Stunde über
Graun und Eeschen hin, wo bei Eeschen-Scheideck die Wasser¬
seheide zwischen Etsch und Inn liegt. Drei kristallgrüne Seen,
durch welche die Etsch talwärts strömt, und ausgedehnte Wälder
beleben das Bild dieses herrlichen Alpenpasses, der vermöge
seiner klimatischen Vorzüge, der reinen Höhenluft (durchschnitt¬
liche Höhe zirka 1500 m) als das tirolische Engadin, wie es oft
genannt wurde, bald außerordentliche Beliebtheit gewinnen wird.
Der höchste Reiz der Malserhaide ist aber der Blick auf das
Hauptmassiv der Ortlergruppe, das sich hier in seiner ganzen
Mächtigkeit zeigt. An den Ortler, den man in voller Größe
vom Tale aus aufsteigend erblickt, reihen sich Königsspitze, Thur-
wieser, Cevedale, Geisterspitze und fast alle anderen bedeutenden
Gipfel der Gruppe. Gleich einer breiten, silberglänzenden Krone
ragen sie über die grünen Matten und Seen der Haide auf,

namentlich am Morgen der klaren, südtirolischen Herbsttage
ein überwältigender unvergleichlicher Anblick. Allein nicht
nur als Sommer- und Herbststation, sondern insbesondere als
Wintersportplatz ersten Rangs wird die Malserhaide infolge der
Erschließung durch die Vinschgaubahn gesucht werden. Die
weiten Flächen, die windstille Luft, das klare und nebelfreie
Klima sichern der Malserhaide denselben Rang wie den Winter¬
sportplätzen in der Schweiz.

Auch in touristischer Beziehung ist die Malserhaide von
Bedeutung. Von Graun auf der Haide führt das Langtauferer-
tal nordostwärts in das Herz der ötztalergruppe. Die Wei߬
kugelhütte, 2504 m, der S. Frankfurt des D. u. Ö. Alpenvereins
ist ein gutes Standquartier für eine Anzahl lohnender Hoch¬
touren in der ötztalergruppe sowie für mehrere interessante
Übergänge, in das Kaunertal, Pitztal, ötztal, Matscher- und
Schnalsertal.

Nur an wenigen Beispielen wurde im vorstehenden ver¬
sucht, die touristische Bedeutung der Vinschgaubahn darzutun.
Mit ihnen ist aber ihr Einfluß auf den gesamten Touristen- und
Fremdenverkehr überhaupt noch lange nicht erschöpft Schon
jetzt besitzt die Vinschgaubahn ein touristisches Attraktionsge¬
biet von einer Ausdehnung, wie sie vielleicht nur ganz wenige
derartige Bahnlinien aufweisen können. Bis in den letzten
Winkel der höchsten Alpentäler hinein, die bislang vielleicht
nur gewissermaßen von touristischen Feinschmeckern betreten
wurden, werden die Wellen eines allgemeineren und befruch¬
tenden Verkehrs getragen werden. Aber auch für jene, denen
diese höchsten Regionen ein wenn auch ersehntes, aber nicht
erreichbares Ziel bedeuten, wird sich in den Bergen und den
Talgründen des Vinschgaus so manches stille Plätzchen finden
lassen, wo sie zwischen den Schatten der Fichte und der Edel¬
kastanie jene glückliche Vereinigung von Nord und Süd empfinden
können, die den besonderen Reiz des Vinschgaus und der süd¬
tirolischen Landschaft überhaupt bildet.

Die Ostertaghütte imVajolontale und der Höhenweg von der Ostertaghütte

zum Contrinhause.

Von Dr. Th. Christomannos in Bozen.

Die S. Welschnofen unseres Vereins hat an der Sella di
Ciampacz" im obersten Vajolontale in der Höhe von zirka
2200 m eine kleine Schutzhütte (mit zwei Schlafzimmern zu vier
Betten und einem Pritschenlager für sechs Personen) errichtet,
die zwei Tage nach der Eröffnung des großen Fedajahauses der
S. Bamberg feierlich dem Verkehre übergeben wurde. Die Hütte
ist in direktem westlichen Aufstiege in 2 St. vom Hauptorte des
Fassatals, Vigo di Fassa, und in der gleichen Zeit auch vom
Karersee (vom Karerpasse in nördlicher Richtung abzweigend)
zu erreichen; sie liegt unmittelbar an den Ostabstürzen der
abenteuerlichen Zinne des Fensterlturms, 2671m, und der
Teufelswand, 2723 m, sowie am östlichen Aufstiege zur Rotwand,
2809 m. Man erklimmt diese Gipfel von der Hütte aus in l 1 /»
2 1 /» St. Der interessanteste Berg ihres Gebiets ist entschieden
die schöne Tscheinerspitze, 2792 m, deren verschiedene, nicht
unschwierige Anstiege überaus reizvolle Klettertouren bilden
und die gleich einem mächtigen Gebilde gotischer Säulen
und Pfeiler am Talabschlusse aufragt.

Zu größerer Geltung kommen durch diese Hütte auch die
vier stattlichen Gipfel des Mugonimassivs, 2768 m, die bisher
viel zu wenig gewürdigt wurden. Die leichteste Tour des Ge¬
biets ist die Ersteigung der welligen Felskuppen der Coronelle,
2794 m. Auch der wildzerklüftete Felsgrat der Hexensteine,
2611m, der „Ro8 delle striSs", der teilweise noch unbegangen
ist, bietet Gelegenheit zu schönen Kletterpartien, während der
Fensterlturm mit seinem kurzen, aber schwierigen Anstiege und
seinem äußerst schmalen und exponierten Gipfelgrate eine gern
gemachte sportliche Kletterei und die Teufelswand eine lustige
Trainingtour für Anfänger ist. Hübsche Übergänge führen von
der neuen Hütte einerseits über den Vajolonpaß, zirka 2550 m,
zur Kölnerhütte (in 2 St.), andererseits über den Mugonipaß,
2647 m, oder den Cigoladepaß, 2561 m, in das Vajolettal und
zur Vajolethütte (in 2 1 j i 3 St.). Ein etwas längerer Höhenweg,
der an der linken Seite des Vajolontals hoch oben unter den
zersägten kleinen Türmen des Cigoladekamms beinahe ebenhin

läuft, führt zur berühmten Fassaner Aussichtswarte Ciampedie,
1991m, hinaus und von dieser in gleicher Höhe am rechten
Ufer des Vajolettals sanft aufsteigend zur Gardeciaalpe und zur
Vajolethütte der S. Leipzig, 2255 m. Da sich diese Höhen¬
wanderung bekanntlich in bester Weise über die Graslaiten-
hütte, 2165 m, zu den Schiernhäusern, 2451m, der S.
Bozen fortsetzen und noch mit einer Querung der Seiser¬
alpe und dem Besuche der Langkofelhütte, 2300 m, und
der Überschreitung des Langkofeljochs verbinden und
bis zum Sellajochhause, 2200m, weiterführen läßt, und
dort wieder an die berühmte Höhenwanderung über die
Pisciaduhütte, 2583 m, und die Bambergerhütte, 2873 m,
auf die Boespitze, 3152m, und von dieser in direktem
Abstiege auf das Pordoijoch, 2250 m, und über den
Bindelweg" zum neuen Fedajahause, 2046 m, anschließt,
welch letztere schließlich wieder über die Marmolata und
ihren Westgrat nach dem Contrinhause führt, so kann
die neue Hütte als der Ausgangspunkt oder der Endpunkt einer
der allerherrlichsten Höhenwanderungen im Bereiche der Dolo¬
miten dienen — eine Wanderung, die selbst von Mindergeübten
in kleinen Etappen in allerbequemster und müheloser Weise zu¬
rückgelegt werden kann und ihnen die schönsten Partien der
Rosengarten- und Schierngruppe, der Langkofelgruppe und des
Sellamassivs sowie des Marmolatastocks eröffnet, und die durch
89 Tage ununterbrochen über Pässe, Hochplateaus und Gebirgs-
mme zumeist in der Höhe von über 2000m hinführt und
sich nur an einzelnen wenigen Stellen bis zu 1700m
herabsenkt.

Schneidige Hochtouristen werden zwar über diese schein¬
bare Überproduktion an Raststätten und über diesen Kal-
varienberg von Schutzhütten" vielleicht mitleidig lächeln, aber
es vielleicht selbst ganz angenehm empfinden, wenn sie am ersten
Tage von Her Vajolonhütte etwa Tscheinerspitze und Fensterlturm,
am zweiten Tage von der Vajolethütte die Vajolettürme und
, den Rosengarten, am dritten die Grasleitenspitzen und -Türme