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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.36 (1910)
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Mitteilungen des Deutschen und österreichischen Alpenvereins.

Nr. 3.

gaben traten in den Vordergrund. Dazu kam, daß der
Gedanke an ein fragwürdiges Nachtlager noch bedenk*
lieh weit vom Ziel, etwa im oberen Staffel der Ganera*
alpe oder in einer Schäferhütte auf der Vergaldner
Seite, ein wenig abkühlte.

Die Südliche Eisenthälispitze, 2849 m.

Die Tübinger Hütte, die im August 1908 eröffnet
wurde, erschloß eine neue Bergwelt und legte die Ver*
wirklichung alter Wünsche nahe, so auch des Rotenbühl*
Projekts. Die Hütte steht auf der östlichen Seitenterrasse
des Ganeratalschlusses unterhalb der Moräne des Gas
neragletschers und ist von einem Kranze starrender
Felswände und kühner Gipfelzacken umgeben, von
denen noch mancher unerstiegen ist. Platten* und
Kessispitze (auch Kübliserspitze genannt) sind die
nächstgelegenen Schaustücke hochalpiner Natur; ein
herrlicher Tief* und Weitblick durch das Ganeratal
bildet den wirksamsten Gegensatz. Aber auch das
einsame Kar auf der gegenüberliegenden Talseite, von
den Hängen des Ganerajochs, von Mittel* und Hinter*
berg eingerahmt, zieht durch seine Ruhe und Abge*
schlossenheit den Blick immer wieder dorthin. Über
das Joch herüber blicken in scheinbarer Nähe die
Kronen der beiden Eisenthälispitzen.

Am Vormittag des 22. Juli 1909 zog ich in Beglei*
tung meiner kletterfreudigen, unverzagten Gefährtin
und Teilnehmerin an schon so mancher Bergfahrt,
Fräulein Elly Hobrecht aus Frankfurt a. M., von
Gaschurn im Montafon durchs Ganeratal zur Tübin*
ger Hütte. Es ist eines der schönsten Bergtäler, die ich
kenne. Eine Steilstufe, auf der die Voralpe Ganeu
liegt, hebt es über die Sohle des Montafon, von dem
es in südlicher Richtung abzweigt. Hohe Bergwände
von prachtvoller Gliederung flankieren es, zunächst
noch von einem üppigen Wald* und Vegetations*
gürtel bedeckt, den fallende Wasser durchziehen. Am
fichtenumstandenen Ganerasee vorbei, dem leider un*
aufhaltsame Versandung droht, zieht der Weg zur
Ganeraalpe in ganz allmählicher Steigung. Von dort
an nimmt die Landschaft mehr und mehr die Stim*
mung der großartigen Einöde, den Charakter des
eigentlichen Hochtals an. Alpenrosenstauden und Fels*
getrümmer bedecken den Grund, das Gefäll des uns
entgegenströmenden Ganerabachs wird wilder und
seine Melodie rauschender. Zur schneebedeckten Kessi*
spitze, die das Tal großartig abschließt, tritt links die
Plattenspitze. Schon vor der Alpe wird in weiter Ferne
die Tübinger Hütte sichtbar, auf mächtigem, natür*
lichem Postament ruhend, sich von den ungeheuren
Steilwänden des Talschlusses licht abhebend. Man
verzagt schier, sie zu erreichen; aber das Hochgebirge
läßt neue Beziehungen zu Raum und Zeit gewinnen.
Schließlich wird der scharf eingeschnittene Steig er*
reicht, der an der linken Bergseite zur Terrasse empor*
führt; ihre Überwindungkostet noch einmal gut 40 Min.,
ein steiler Wegschluß 1 Dann betreten wir das hübsche
Bergheim, das in modernem Alpenstil eingerichtet und
sauber gehalten ist. Wir waren zeitig aufgebrochen,
um Angehörige und Freunde noch anzutreffen, die
eine Tagestur zur Hütte unternommen hatten, um nach*
mittags wieder nach Gaschurn zurückzukehren. Ein

Stelldichein an solcher Stätte ist immer etwas Froh*
liches und Unvergeßliches: Nun konnten wir uns
noch stundenlang sonnen, bis gegen Abend der Dritte
im Bund erschien, Herr A. Kurlbaum aus Leipzig.

Der Morgen des 23. Juli brach herrlich an; bald
nach 5 U. marschierten wir ab, als grade Kessi* und
Eisenthälispitzen goldene Hauben aufsetzten. Eine
Hamburger Dame und ihr Berliner Neffe Fritz Wil*
heim, ein junger Springinsfeld von 12 Jahren, waren
von der Gascnurner Gesellschaft zurückgeblieben, um
uns drei Bergsteigern noch das Geleit bis aufs Ganera*
joch zu geben. Zunächst galt es, den Talschluß zu um*
gehen und möglichst ohne Höhenverlust das jenseitige
Kar zu gewinnen. Keine angenehme Aufgabe! Wegen
der Ungunst der Witterung waren die von der S. Tu*
bingen geplanten Wegbauten noch kaum in Angriff
genommen worden; hierzu hätte auch der Weg ge*
hört, der den Übergang ins Vergaldner Tal ver*
mittein soll. So mußten wir uns denn mühsam einen
Pfad durch Steingetrümmer und über Schneeflecken
selber suchen. Drüben wurde es besser. Die linke
Hälfte des Kars ist zwar ebenfalls mit Geröll und
Schnee ausgefüllt; aber der rechte Teil, von einem
plätschernden Bachlauf durchquert und mit alpiner
Flora reichlich geschmückt, hat fast etwas Liebliches.
Vor uns und bereits im Sonnenglanz lag der steile
Grashang des Ganerajochs, der zwischen Schnee*
feldern emporzog. Nun legte der Springinsfeld, dem
ich «plein pouvoir» gegeben, eine derartig höllische
«Pace» vor, daß sich das Feld bald auseinanderzog. Er
siegte denn auch wie er wollte und man sah ihn bald
darauf nachdenklich auf der Jochhöhe vor dem Rest
einer Gipfelwächte sitzen, auf deren leuchtendes Weiß
er einen ausdrucksvollen Schatten warf. Wir anderen
keuchten langsam hinterher. Zur Schwere des Rucksacks
gesellte sich bei mir die noch nicht überwundene See*
Krankheit, das traditionelle Gespenst, das nach Hütten*
nachten im Morgengrau erscheint. So kam mir diesmal
der Aufstieg zum Joch wie eine Qual des Inferno vor.
Auf dem Grashang des vergessenen Jochs sind die
Spuren uralter Serpentinen nur noch dadurch erkennbar,
daß auf ihnen gewisse gelbe Blumen gedrängter stehen.
Nach kurzer Höhenrast erhielt Elly von der Tante den
photographischen Apparat und ich vom Neffen mein
Seil zurück, Gepäckstücke, die wir den nunmehr Heim*
kehrenden unter schmeichelhaftem Vorwand aufge*
nötigt hatten.

An uns drei Gipfelstürmer tritt nun aber der Ernst
der Tagesaufgabe heran. In voller-Sonne, aber recht
weit, ragen vor uns die Ostgiebel des Rotenbühl. Der
Verbindungsgrat streicht nördlich in ziemlicher Ent*
fernung vom Hinterberg ab, dem rechtsseitigen Tor*
Wächter des Ganerajochs; er holt weit aus, wendet sich
dann nach Südwest, um schließlich direkt gegen West
in die Wand der Südlichen Eisenthälispitze zu stoßen.
Daß dieser Grat unsere Brücke sein muß, liegt auf der
Hand. Rechts und links davon schießen die Wände
und Couloirs des Rotenbühl in die Tiefe. Wir könnten
nun fast ohne Höhenverlust die etwas nach rechts ge*
legene Kärstufe durchqueren und erst dort auf den
Grat steigen, wo er umbiegend sich wieder nach Westen
wendet. Wir haben aber Zeit, möchten auch gern den