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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.03 (1872)
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J. Stüdl und Ed. Richter: Wanderungen in der Venediger-Gruppe. 297

umfassender ist, da dieser uns hier fast den ganzen Osten
der Tauern verdeckte ; an Einzelschönheiten steht ihm aber
unsere Spitze gewiss nicht nach. Einmal die schon erwähnte
Ansicht der Zillerthaler Alpen, dann besonders der Blick über
den entsetzlich steilen Nordabfall hinunter in den weiten
Circus des zerklüfteten Krimmlerkeeses , endlich die stolze
Eisschneide der Simonyspitze und der ganze so ausgedehnte
Boden des Umbalkeeses. Was die entfernten Partien im
Norden, sowie in Süd und Südwest betrifft, so ist der Unter¬
schied von der Venedigeraussicht nur gering. Auch der
Anblick unserer Schlieferspitze, die recht stattlich und unnahbar
sich präsentirte, erfreute uns sehr.

So warm und angenehm war der Aufenthalt auf der
Spitze, dass, nachdem die Leib gestärkt war, und das Auge
genug geschwelgt hatte, die Mehrzahl der Gesellschaft sich
zwischen den Felszacken einbettete, um an Schlaf nachzuholen,
was das Hotel Umbal versagt hatte. Der Gedanke an die
Besteigung der Simonyspitze musste leider ohnehin aufgegeben
werden , als wir uns von der Weichheit des oberen Firns
überzeugt hatten. Doch erschien uns eine Ersteigung derselben
vom Umbalkees aus, ja selbst der Uebergang von der Drei¬
herrenspitze durchaus nicht besonders schwierig, was auch
mit den Beobachtungen des Herrn Professors Simony selbst,
sowie mit jenen des Herrn Th. Harpprecht übereinstimmt.

Fast 4 Stunden weilten wir am Gipfel, und erst um 12 h
begannen wir den Rückweg. Derselbe ging meist in unseren
alten Spuren rasch von statten, nur stiegen wir etwas früher
auf das eigentliche Umbalkees hinab, so dass wir jenen er¬
wähnten grasbewachsenen Palfen nicht betraten: ein Weg,
der in schneearmen Jahren wegen vieler Spalten, die dann
hier aufreis*sen mögen, vielleicht nicht rathsam ist. Um 3 Uhr
waren wir, lustig über den schneefreien Gletscher hinabgleitend,
wieder im Hotel Umbal.

Wir haben also die Dreiherrenspitze, welcher ein so
schlechter- Ruf anhaftet, durchaus nicht so beschwerlich oder
gar gefährlich gefunden, wie sie in der Regel in den Reise¬
büchern*) bezeichnet wird. Es würde uns freuen, wenn durch
unsere Besteigung die „Ehrenrettung 1 ' eines ungerecht Ver-
läumdeten gelungen wäre, und in der Zukunft die Dreiherren¬
spitze ein so beliebter und besuchter Punkt würde, wie es

*) Die Angaben Trautweins sind in der neuen Auflage nach unseren
Erfahrungen rectificirt.