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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.03 (1872)
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J. Stüdl und Ed. Richter: Wanderungen in der Venediger-Gruppe. 307

Gegend hat sich aber in ihrem Gesammteindruck total ver¬
ändert. Nicht mehr die engen Schluchten und Gletscher¬
begrabenen Hochmulden der Venedigergegend , sondern ein
breiteres Thal, hoch hinauf mit der schönsten Alpenweide
bedeckt, welche ungewöhnlich schönes Vieh in grossen Heerden
ernährt, dazu nunmehr Felsspitzen, aber von heller Farbe
und schroffen Formen, wieder ähnlich dem Kalkgebirge. Nur
ein hervorblinkeuder Gletscherabbruch des Fleischbachgletschers
aus der Antholzer Gruppe zeigte, dass, wenn wir uns auch
von einer hohen Gruppe entfernt hatten, wir doch wieder
einer anderen nahe gekommen waren.

Lange mussten wir suchen, bis wir eine geöffnete Hütte
fanden, da die Bewohner der meisten mit Mähen beschäftigt
waren. Eine riesige Schüssel Milch stärkte uns und trotzdem
wir an diesem Tage wahrlich schon genug gestiegen waren,
traten wir doch nach einer halben Stunde, um 5 Uhr den
Weitermarsch an und noch dazu abermals bergauf, dem
Klammlpasse zu (7300' K.); der Wunsch endlich wieder einmal
in einem Bette zu schlafen , liess uns die momentane Be¬
schwerde gering achten. Auch war es an dem kühlen Abende
ein recht liebliches Wandern, und das freundliche Grün und
die sanfteren Formen allenthalben thaten dem Auge wohl.
Vom Klammlpass ab breitet sich wieder eine neue Welt vor
unseren Blicken aus. In der warmen Beleuchtung der sinkenden
Sonne lagen die schönen und ruhigen Formen der Gruppe
der ,, Nocke" zwischen Rainthal und Ahrnthal (Mostnock
9677' Ski., Hirbanock 9700' Ski. und mehrerer anderer
„Nocke") vor uns. Noch war die Dämmerung nicht weit
vorgeschritten, als schon im Osten der Mond in prächtiger
Klarheit aufging. Jetzt kamen wir an die Stelle, wo das
Thalbecken von St. Wolfang sich öffnet. Links tauchte die
im Mondlicht funkelnde Eisspitze des Ruthnerhorns auf. Vor
uns lagen auf glänzender Fläche die Gehöfte von St. Wolfgang.
Es war schwer, darunter unser Ziel, das Gasthaus, zu finden.
Lange tappten wir zwischen den Häusern und Feldern herum
bis wir es fanden, und vergassen darob fast die schöne Mondland¬
schaft zu bewundern, in die jetzt auch, seit wir links in das breite
Bacherntbai Einblick erhalten, der Hochgall eingetreten war.

TL Besteigung des Hochgall.')

(3442-1- = 10877' Neue Mapp. 10880' Sonklar.)

Das Gasthaus zu St. Wolfgang ist ein recht erbärmliches
*) Etymologisch richtiger wäre der Gebrauch der Bezeichnung Hoch¬
galle als Femininum; das gleiche gilt von der Wildgalle. Anm. d. Red.
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