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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.03 (1872)
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J. Stiidl und Ed. Kichter: Wanderungen in der Venediger-Gruppe. 277

fertigkeit mit der die würdige Schaffnerin für uns sorgte
wohlthuend und behaglich. Die Abendstunden benutzten wir
noch zu einem Spaziergang dem Thal hin tergr und entgegen,
wobei wir die Bekanntschaft des alten Staller Nandl machten,
seiner Zeit der einzige Führer in diesem Theile des Gebirges;
jetzt hat er diess Geschäft seinem Sohne Frauz Ranneburger
überlassen, der sich auch bereits als tüchtiger Führer bewährte
und durch Herrn Stüdls Vermittlung behördlich concessionirt
worden ist. Der alte Nandl , ein vertrocknetes Männchen
mit struppigem weissem Haare und Barte wusste uns in
gesprächiger Weise eine Menge ganz interessanter Auskünfte
über Besteigungen der umliegenden Gipfel mitzutheilen, wobei
er in seiner mit ungezählten Flicken bedeckten Kleidung, mit
seinem Pfeifenstummel lebhaft gestikulirend, auf einem moos¬
bewachsenen Felsblock in dieser Wildniss sitzend, einen ganz
abenteuerlichen Anblick darbot.

Klar, auch nicht von einem Wölkchen getrübt, wölbte
sich der Nachthimmel über uns als wir beim trüben Scheine
einer Laterne um l h 30 ra unsere gastliche Herberge verliessen,
und unter Rangetiners Führung in das Labyrinth von tiefen
reissenden Wildbächen, sumpfigen Tümpeln und Geröllfeldern
hinausschritten, welche den ebenen Thalboden bildeu. Doch
mit höchst anerkennenswerther Localkenntniss führte uns jener
hindurch, meist an der linken Thalwand fort, bis wir nach
einer Stunde die Brücke, welche über den rechts vom Villtragen-
kees herkommenden Bach führt und hiemit zugleich das Ende
des Thaies erreichten. Jetzt begannen wir zu steigen, über
glatte Platten, abschüssige Grasflecken, anfangs durch Krumm¬
holz ging es — ohne Weg — die Abhänge des Kesselkopfes
hinan: — bei Nacht und schwachem Laternenschimmer ein
mühseliges Stück Arbeit. Links waren gespenstig und farblos
die Zacken und Risse des Schlatenkeeses, sowie die Ungeheuern
Blöcke seiner Moräne zu erkennen , — tief im Thale blinkte
ein Licht aus den Hütten die wir verlassen hatten herauf.
Erst nach zwei Stunden Steigens zeigte sich als die erste Spur
des Tages ein fahles Licht im Osten. Bald konnten wir
unsere Laternen entbehren. Wir hatten bereits die Höhe der
oberen Stufe des Schlatenkeeses erreicht, das links unter uus,
noch immer ziemlich steil geneigt und von unzähligen Spalten
zerrissen zu Thal ging. Wir gingen , einige hundert Fuss
ober ihm, nur wenig ansteigend, an dem Südabhange des
Kesselkopfes hin und dachten, wie angenehm und bequem es
wäre, wenn hier, wo eine Menge passender Punkte sich befinden,
eine Unterkunftshütte stände, zu der ein Weg von Gchlöss

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