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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.10 (1879)
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Dolomit-Alpen.

Dank seinen langen Beinen mit ausserordentlicher Meisterschaft bei
den Thalwanderungen anzuwenden pflegt, dauerte es einige Zeit,
bis wir uns warm gelaufen hatten, und selbst als es hell geworden,
war die Temperatur noch immer keine behagliche zu nennen. Je
tiefer wir ins Tschislerthal eindrangen, desto grossartiger gestaltete
sich die Landschaft, doppelt wirkungsvoll durch den herrlichen
Contrast der lieblichen lichtgrünen Matten mit den wild zerrissenen
Kämmen der Geisslerspitzen, die nahezu das ganze Thal umsäumen.
Schon in 7 /4 Stunden statt der gewöhnlich angenommenen 3 Stunden
hatten wir die langsam aufsteigenden Weidetriften des Tschisler-
thals passirt, und standen nun unmittelbar vor der , schon oben
erwähnten anscheinend senkrechten und ungefähr vor der Mitte
der ganzen Gruppe gelagerten Vormauer der Geisslerspitzen, deren
Plateau erreicht werden musste, um zur kolossalen Schutthalde,
die damals allerdings noch tief von Schnee bedeckt war, zu gelangen.
Drei mächtige Schuttströme ziehen zwischen den stolz aufstrebenden
Wänden in's grüne Thal herab; auf gut Glück wählten wir den
mittleren, der links von der Vormauer seine Massen vorschob, und
kletterten über das Geröll ziemlich mühselig empor. Am oberen
Ende der schutterfüllten Schlucht angelangt, wandten wir uns nach
rechts, und traten in einen schmalen, von rothbraunen Wänden
umgrenzten Felstrichter ein, dessen jähe Abstürze ein Hinauf klimmen
ziemlich schwierig erscheinen liessen. Auch hier täuschte jedoch
der erste Anblick, denn bald bot sich an Gesimsen und Felsbändern
genügender Halt für ein weiteres Vordringen, und ohne besondere Be¬
schwerde ging es kriechend und kletternd Klafter um Klafter empor.

Die Formation der einzelnen Vallons, die wir auf diese Weise
passirten, zeigte eine überraschende Aehnlichkeit mit den mir wohl
bekannten Felspartien des Cristallo. Dasselbe rothbraune, vegeta¬
tionslose Gestein, dieselben kleinen von Schneerinnen durchzogenen
Wände und Kessel, dieselben tief eingerissenen schmalen Kamine
— das Ganze eine Wildniss voll der grossartigsten Bilder, in welche
kühn geformte Felshörner und Nadeln allerorts hereinblicken, deren
verwitterte Flächen Wasseradern, von abschmelzendem Schnee
gespeist mit melancholischem Geplätscher berieseln. Von dieser
Felsenpassage, die wohl manche Schwierigkeiten, aber sonst keine
ungewöhnlichen Hindernisse bot, erscheint mir nur eine Stelle er-
wähnenswerth, bei welcher ich, da mein Schritt nicht soweit reichte,
als der Bernard's, um unnöthigen Aufenthalt zu vermeiden, über
seinen Rücken, während er, den Oberkörper in den Felsen ein¬
gezwängt, mit weit ausgespreizten Beinen über einer schmalen tief-
emgeschnittenen Kluft stand, zur gegenüberliegenden Wand hinüber
steigen musste. Nach einer starken halben Stunde hatten wir
diese Kletterpartie hinter uns und befanden uns auf dem Plateau
oberhalb der Vormauer, am Beginn des gewaltigen Steinkars, das
zum Felsengerüst der Haupterhebung der Geisslerspitzen hinanzieht.