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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.10 (1879)
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Stubaier Gruppe.

erhebt sich ein scharfspitziger Gipfel , er überragt meinen Stand¬
punkt noch beträchtlich und fällt gegen NW. in einer furchtbaren
Felsmauer ab, die ihr unteres Ende in die Schlucht setzt, welche
von dem zu Füssen hegenden Sattel gegen W. sich senkt. Und
des Gipfels Nord-Gehänge ist ersteiglich , — die Villerspitze
ist mein !

Bald war die Einsattlung gewonnen, bis zu welcher der Firn
heraufreicht. Der weitere Anstieg ging ganz leidlich vor sich, nur
eine Felspartie bereitete einige Schwierigkeit. Meine Spannung
wuchs in dem Masse des Vordringens, noch hatten die zwei andern
Gipfel der Villerspitze sich nicht gezeigt. Aber jetzt — da sind
sie; gewaltige, krumme Hörner, durch tiefe Sättel getrennt und,
wenn auch theilweise begrast, finster genug. Würde ihnen noch
der Name fehlen, „Teufelshörner" sollten sie heissen. Noch einmal
senkt sich der Kamm und steigt jenseits wieder unmerklich höher
empor, wie die Libelle wies.

1 U. 10 ist der höchste Punkt erreicht. Jetzt erst fliegen
die Blicke rings in's Weite. Blauer Himmel oberhalb und die
vorhandenen Wolken über den Gebirgen. Rufe der Freude schallen
hernieder rings in's Thal.

Schon während des ganzen Aufstiegs vergeblich nach Spuren
früherer menschlicher Anwesenheit spähend, fand ich auch an den
beiden Kuppen des immerhin einigen Raum bietenden Gipfels
nicht das geringste vor. Rasch wurde ein 1 V2 m hohes Stein¬
männchen aus Blöcken so erbaut, dass man selbst vom Fuss des¬
selben auf Oberiss hinunter sah. Dies vollbracht, kam die Aussicht
an die Reihe. Leider waren Karten und Compass mit dem Ruck¬
sack unten gebheben und so ein genaues Studium unmöglich. Der
erste Blick flog gegen W., da man nach Loisl dort bis in die
Schweiz sehen sollte ; aber nichts derart war zu erblicken. Im N.
zeigen sich die Kalkalpen in grosser Ausdehnung ; im W. und S.-
W. die ganze nördliche Hälfte der Stubaier Gruppe (Seirainer und
Alpeiner Gebiet und ein Theil der Spitzen des Pfaffen-Gebiets) ; im
O. die Tuxer und dahinter die Zülerthaler Gipfel, noch weiter
Östlich ein dreieckiger Eisgipfel, — muthmasslich der Venediger;
im SO. über die Schrimmennieder hin die Marmolada. Grossartig
ist der Ueberblick auf die Gletschermassen des Alpeiner-, Hinter-
berger- und Lisenser Ferners. Aus ihrem blendenden Glanz steigt
edel geformt und schlank die schöne, weisse Gestalt des Ferner¬
kogels empor ; in gewaltigem Dreieck strebt der mächtige Schran-
kogel aus dem Hintergründe von Alpein in die Lüfte und
majestätisch vor allen zeichnet sich die Perle Stubai's, das breite
Massiv des Ehrfurcht gebietenden Habicht.

Die Thalansicht erstreckt sich auf das Gebiet von Oberiss,
auf Theile des Seirain (bei Gries) und vorzüglich auf das Fatscher