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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.38 (1907)
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Hanns Barth und Alfred von Radio-Radiis

eine Riesensäge mit kühnen Felstürmen gezähnten Ostgrat. In einer kurzen Schlucht
ersteigt man einen nordwärts anliegenden Schuttriegel und umgeht ihn auf Schutt¬
terrassen nach links, wobei sich ein immer luftiger werdender Tief blick in das urwilde
Val Persa erschließt. Endlich scheint jegliches Vordringen ein Ende zu haben, denn
eine himmelhohe, von Zinken gekrönte, pralle Felsmauer sperrt abweisend unseren
Pfad. Doch wie man zweifelnd an ihrer glatten Panzerung den Blick auf- und nieder¬
gleiten läßt, entdeckt man plötzlich ein schmales Gesimse, das zu einem kanzel¬
artigen Vorsprung in der schier senkrechten Begrenzungskante hinausläuft. Und
richtig! Nun entdeckt man auch das sichernde Drahtseil, an dem der alpine »Hansel«
das angenehme Gruseln einer schwindeligen Traverse gefahrlos kennen lernen kann.
Unter einem Überhang ganz in die düstere Verschneidung der Wand mit dem eben
passierten Schuttriegel hineingekrochen, schleicht man, besser als erwartet, auf dem
schmalen, versicherten Gesims zur Kanzel hinaus, von der ein breites Band in eine
Scharte des Ostgrats leitet. Hier mag man gerne rasten, denn die freie, weite Aussicht
gegen Osten, über das Val Persa und das Val delle seghe hinaus zum Molvenobecken,
über die Höhenzüge der Etschtalumrahmung zu den prächtig aufzüngelnden Dolo¬
miten der Palagruppe, des Latemars und Rosengartens, wirkt doppelt entzückend
nach der drückenden, wilden Felsszenerie der nächsten Umgebung.

Offen liegt nun das großartige Massodikar vor den Blicken. Zuerst jenes Becken,
welches zwischen Cima d'Armi und Cima Brenta eingezwängt ist; doch kaum,
nachdem man die von der Bocca d'Armi absinkende Schlucht passiert hat, auch
das noch viel, interessantere untere Becken, aus dem sich zwischen den Fulmini-
ungeheuern das wildeste und absonderlichste Felsgebilde, die Guglia, in verblüffender
Schlankheit emporreckt.

Und nach diesem beispiellosen Felszahn wird man noch oft und oft die Blicke
wenden beim Abstieg durch die wirre Blockwüstenei, welche erst am Ostabfall des
von der Cima Brenta alta ausstrahlenden Astes ihr Ende rindet; um diesen herum
erreicht man auf steinigen Rasenhängen die Schneemulde unter der Bocca di Brenta,
wo sich auf glattem Vorsprung die traute Tosa Hütte willkommen zeigt. Befriedigt
hält man dort seinen Einzug, denn ohne einen Gipfel bestiegen zu haben, hat man
bei der heutigen Wanderung in den zentralen Teil der Brentagruppe erkenntnisreiche
Einblicke getan.

Cima Brenta alta, 2960 m

(A. v. R.-R.) Am 28. August 1904 stieg ich zu photographischen Zwecken von der
Tosa Hütte in das Massodi hinüber und erklomm eine ziemliche Höhe des südöstlichen
Gratkopfs der Cima d'Armi. Mein Träger war nicht felsentüchtig genug gewesen
und im sicheren Karboden zurückgeblieben. Als ich hoch oben auf einem schmalen
Bändchen unter einer steilen Wand meinen Apparat aufgestellt und eben die Vor¬
bereitungen zur Aufnahme getroffen hatte, da polterte es plötzlich in der Wand
ober mir; ich vermutete Steinfall, und da mir mein Kopf doch noch lieber war als die
wertvollste Kamera, sprang ich rasch unter den hochaufgestellten Dreifuß. Im nächsten
Augenblick krachte es schon herab von der Höhe. Splitter flogen auf den armen
Lichtkasten mit der dem Lichte bereits ausgesetzten Platte und neben dem Apparat,
an der Stelle, wo ich vorhin gestanden war, fiel ein riesiger Eiszapfen herab und
zerbarst auf dem groben Schutt. Ohne an das prächtige Bild mit der Guglia zu
denken, raffte ich mit fliegender Hast die Riesenkamera und meine kostbaren Sachen
zusammen und sprang wie toll über die steilen Felsen wieder hinab, um einem er¬
neuten Liebesgniß von »oben« zu entgehen. -------- Am späten Vormittag war

ich wieder zurück in der Tosa Hütte. Mein Bruder Gaston, der von diesen müh-