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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.38 (1907)
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Die Brentagruppe 22c

Auf die Guglia di Brenta

(H. B.) Jener unwiderstehliche Drang nach Gefährdung, der uns den Wert
des eigenen Ichs erkennen läßt, hatte schuld daran, daß am 15. August 1901 zum
drittenmal zwei Menschen sich dem kühnen Felsgebilde nahten. Mit jedem Schritt
vorwärts nahm dieser Drang zu, so daß wir, statt um den tiefabsinkenden Ostgrat
der Cima Brenta alta ab- und herumzusteigen, gleich auf eine markante Scharte,
gerade der Tosa Hütte gegenüber, losstürmten.

Ein riesiger Block versperrt sie. Und eine mühsame, schwierige Kletterei in der
rechten Wand, nur ein paar Meter hoch, machte uns rechtschaffen heiß, so daß wir
sie unwillkürlich Bocca di Sacramenti nannten. Von der Schartenhöhe blickten
wir auf die Schutt- und Felsbrocken-Wüstenei, Massodi benamst, hinab und fühlten
Befriedigung, daß wir schon so hoch über ihr standen. Über Schuttkegel an prallen
Wänden entlang, kamen wir in einen schmutzigen Schneegraben hinab. Hei, da
schaut das Ungetüm schon anders aus I Zwischen den gewaltigen, massigen Pfeilern
seines Horstes, Cima Brenta alta links und Campanile alto rechts, muß solch schlanke
Form aus der Entfernung verlieren trotz des geringen Höhenunterschieds, aber hier
in der Nähe: allen Respekt!

Glatt wie eine Schlange ragt der wilde Felsturm wohlgezählte 300 Meter auf,
und hocherhobenen Hauptes scheint er wie eine solche den nahen Feind zu er¬
warten. Doch der Blick geht über uns hinweg, wahrscheinlich in die Massodi-
Wildnis hinab; denn dorther sind die Helden gekommen, die sich seine Gloriole
der Unnahbarkeit herabgeholt und dafür ein steinernes Sklavenmal auf sein Haupt
gedrückt haben. Berger und Dr. Ampferer aus Innsbruck waren die Kühnen.

Das ist das Schöne, daß die modernen Bergsteiger solch wilde Felsunholde
nicht vollends töten mit Drahtseil, Stiegen und Geländern, sondern nur solange
knebeln und fesseln, als es die eigene Wohlfahrt verlangt, um gesichert aus den
Schätzen, die sie hüten, auszuwählen nach Neigung und Geschmack. Auf diese
Weise finden die Nachfolger noch immer einen Gegner, der volle Kraft und Ge¬
wandtheit fordert, obgleich seine verwundbaren Stellen gezeichnet sind durch Eisen¬
stift und Seilring. Pfann und Leberle (München), die zweiten Eroberer, haben
sicherlich gleich uns freudig diese Merkzeichen begrüßt.

Behutsam, aber eilig stiegen wir den Trümmerhang hinan und beäugten begehr¬
lichen Blicks clen immer herausfordernder sich aufbäumenden Felskoloß. Krallen¬
artig bohrt er kurze, jähe Felsgrate ins wüste Kar, zwischen denen sich gleich Schwimm¬
häuten steile Schneehänge spannen. Wir mußten deren zwei queren, um, im Bogen
nach rechts ansteigend, über vorsichtheischende, brüchige Schrofen auf einen ostwärts
vorspringenden Aufbau zu kommen, der als vorgestreckte mächtige Tatze ein dünnes,
hohes Riff, wie einen schirmenden Schild vor den blanken Felsenleib der Guglia
zu halten scheint, denn damals gab es noch keine ausgekletterte Pfadspur links zur
Gugliascharte wie heute, wo man jenseits, den schwierigen Vorzacken beiseite lassend,
gleich direkt zur Südwand ansteigt.

Wallende Nebel drängten sich durch die scharfen Scharten zur Linken und
Rechten des wilden Turms, umkreisten ihn feierlich langsam und ließen, sich ent¬
faltend, seine Umgebung in düstern, grauen Schleiern verschwinden. Wie durch Zauber¬
spuk war die Erde versunken bis auf diese letzte Säule da vor uns, die sich in erdrücken¬
der Wucht reckte und streckte — scheinbare Weltachse im gährenden Nebelchaos!

Wir setzten uns hin und schauten still das wehmütig schöne Schauspiel und
wären beinahe schüchtern geworden. Da ließ der wilde Gesell, getäuscht durch
diese Untätigkeit seiner abschreckenden Wirkung zu früh sich freuend, das Nebel¬
kleid entflattern und wandte selbstgefällig sein trotzig Haupt der goldenen Sonne zu.