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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.38 (1907)
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-ija Hanns Barth und Alfred von Radio-Radiis

Hütte gut sichtbare Schuttmulde etwas mühselig hinan, hielten uns dort, wo die
etwas höhere, zur Bocca niedersetzende Wandstufe im Schutte angrenzt, etwas nach
links und wendeten uns dann, in westlicher Richtung direkt über die Terrasse an¬
steigend, der Ostflanke der zweiten Wandstufe zu. Neben einem nassen Riß stiegen
wir vorerst etwas nach links an, gewannen ein Band, das wir nach rechts ver¬
folgten und klommen dann über eine recht luftige, aber ganz sichere Felspartie
und über Schrofen zur zweiten Terrasse hinan. Diese Schutterrasse querten wir bis
zur Mündung der Gipfelrinne. Bald nach dem Einstieg in diese Gipfelrinne wollte
ich der Steingefahr in derselben dadurch entgehen, daß ich auf die jäh aufbauende,
linksseitige Begrenzungsrippe der Schlucht stieg und dort hinanklomm. Je höher ich
kam, desto plattiger und steiler wurden aber die Felsen, so daß ich zuletzt einsah,
daß ich mich mit der Begehung dieser Rippe in eine allzuschwere Sache eingelassen
hatte. Ich wollte in die Schlucht zurücksteigen, aber da hatte ich gerade an dieser
Stelle eine recht heikle Kletterei vor mir. Unter spöttischen, wenn auch scherz¬
haften Bemerkungen meiner Genossen, die die Schlucht emporgestiegen waren,
mühte ich mich lange umsonst ab, einen recht verdächtigen Rückzug auf neuschnee¬
bedeckten Felsen zu machen. Endlich, als alles wohl erwogen war, und nachdem
ich mich überzeugt hatte, daß dies für mich durchführbar sein mußte, wagte
ich's, mich, für Augenblicke frei über dem Abgrunde schwebend, hinüberzuschwingen.
In der Schlucht ging es dann nach dem Bisherigen leicht und rasch aufwärts. Wo
sich die Schlucht teilt, wandten wir uns dem rechten Ast zu und klommen zu¬
letzt über blockige Felsen und Trümmer von rechts her auf den kurzen Gipfelgrat
der Spitze.

Eine klare, herrliche Fernschau war uns beschieden. Da die Cima Brenta alta
alle die Zinnen der nächsten Umgebung weit überhöht, so ist der Ausblick ziemlich
weitreichend. Ganz eigenartig ist der Anblick der Guglia di Brenta: Um sie über¬
haupt zu sehen, muß man vorerst ganz an den Absturz vorgehen und nach Nord¬
westen ein Stück hinabsteigen. Man überblickt von hier, wie das Bild bei Seite 336,
das ich an diesem Tage aufnahm, zeigt, deutlich das ganze, ziemlich große Gipfel¬
plateau mit den zwei Fahnen. An der Ostecke der Gipfelplattform flattert die
deutsche in die Lüfte, während die in die italienischen Nationalfarben getauchte der
Westkante entragt. Links unten sieht man deutlich das kurze Gratel, an dem die
schwarze Kaminreihe endet, dann sieht man die Schuttkanzel, von welcher sich der
letzte Anstieg an der Nordwestkante vollzieht. In prächtigem Aufbau strebt dahinter
der Campanile alto auf, dann folgen die übrigen Fulminizacken und der Torre di Brenta
sowie die Cima d'Armi, alle weit überragt von dem im Hintergrunde aufstrebenden
Stocke der Cima di Brenta, der mit seinem wuchtigen, breitwandigen, von Schichten
und Bändern durchzogenen Aufbau majestätisch dasteht. Hüben sieht man die von
unserem Standpunkte winzig erscheinende Cima Brenta bassa, die Cima Margherita
und die steilaufstrebende Cima Tosa, mit ihrem Strebepfeiler, dem Crozzon. Die
weißblinkende Firnhaube der Tosa kontrastiert prächtig mit dem rötlichen Fels
des Bergs. In der Ferne sieht man die schlanke Pyramide der Presanella und ihrer
Vasallen. Berg an Berg reiht sich daran. Duftige Ferne blaut dahinter.

Ein prächtiger Nachmittag ist es. — Rasch verrinnt die Zeit; wir müssen wieder
hinab! Auf dem gleichen Wege, den wir gekommen, steigen wir zu Tal. Nur im obersten
Teile weichen wir vom Anstiegswege ab und verfolgen vorerst den kurzen, hübschen
Südgrat. Dort wo dieser steil abbricht, wenden wir uns nach Osten und gewinnen
so die im Aufstiege nicht benutzte linke Rinnengabelung. Durch diese Verschneidung
kommen wir in die Hauptrinne und auf die obere Terrasse; dann folgt die steile Wand¬
stufe und die große mittlere Schutterrasse; bald tauchen wir in den schattenkühlen
Schlund des Anstiegskamins und sind bald darauf bei der Tosa Hütte.