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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.38 (1907)
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Die Brentagruppe 227

der Spitze des schildartigen Vorzackens. Ein Blick ins Massodikar, wo Nebel¬
schwaden das Ende der Welt uns vorgaukeln wollen, dem dumpfes Böllergekrach
der kirchenfrommen Herde in der Tiefe grollend widerspricht, und schon geht's
weiter, knapp neben der Kante. Erwartungsvoll heben w r ir die Köpfe spähend aus
dem kurzen, griffigen Kamin, der den steilen Fels durchreißt, unter dem sich die
von uns gegründete Niederlassung für von »Herrschaften« abgelegte Effekten
niedlich zeigte.

Ein überraschend breiter Geröll- und Schrofengürtel umspannt die Nordseite
der schlanken Zinne, den nur deren Riesendimensionen von unten nicht zur Geltung
kommen lassen. Genau in der Trennungslinie zwischen Nord- und Südseite sich
befindend, bekommt der Berg einen janusartigen Ausdruck: links vom Scheitel bis
zum Fuß eine glatte, blanke Mauer, die Südwand, die zu Ehren des Erstbezwingers
künftig Berger wand genannt werden möge; rechts aufgelöste, zahme Formen, die
mit senkrechten Abstürzen zur Tiefe abbrechen, aus welchen erst die Nordseite des
Gipfelbaues, die Ampfererwand, hartlinig aufsteigt. Unser Berg wird dadurch förm¬
lich ein Spiegel für seine Nachbarn, denn südwärts bricht gleich ihm die Cima Brenta
alta in praller Wandflucht ab, während nördlich in reicher, fast gezierter Gliederung
der stolze Campanile alto steht und auf dünnem Finger eine große Steinkugel ba¬
lanciert, was die wilde Guglia so zu erheitern scheint, daß sie in koketter Anwand¬
lung ihren »guten« Ruf vergißt.

Ein weiter Kamin, von Ruinen eines Plattenkopfs und dem Schrofengehänge
gebildet, läßt in willkommener Leichtigkeit einen schulterartigen Vorbau gewinnen,
von dem man eine graue Felskanzel zum Gegenüber hat, und dazwischen laufen längs
löcherigem Gefels schmale, hie und da schwierig begehbare Bänder. Doch kurz währt
diese gutmütige Laune, denn drüben, über die hochstufige Felskanzel ansteigend,
steht man bald vor zwei auseinanderlaufenden, langen, engen Kaminen, welche
aus rötlicher, brüchiger Nische finster und drohend wie Zornesfalten emporziehen.
Den linken hat bis jetzt noch niemand einladend gefunden, und rechts angepackt,
reitet man bald auf der scharfen Kante der dünnen Scheidewand schwierig hinan,
wobei die linken Bewegungsmittel im Riß, die rechten an der glatten Wand über
wilder Schlucht Haltpunkte haschen. Grottenartig sich schließend, haben hier, wohl
aufgebracht über diese Bosheit, die Erstersteiger abermals den widerspenstigen Fels
mit einem Haken gespornt und gezähmt, so daß man beruhigt über den senk¬
rechten, freien Pfeiler nach links hinaus in einen Nebenspalt klettert, der rasch zur
scharf ausgeprägten Scharte hinaufhilft.

Habe ich früher die Schrofen unten als »Gürtel« bezeichnet, so muß die nun
vor uns liegende schmale Schutterrasse, die sich wieder im rechten Winkel an die
Wände schmiegt, »Halsband« genannt werden, denn unmittelbar darüber erhebt sich
das trotzige Berghaupt, von dem, um die Ecke spazierend, eine jähe, Reihenkamine
bildende Felsschneide absinkt, aus der sich mit wagrechtem Ansatz der zacken¬
gespickte, kurze Westgrat loslößt, gleich dem Stachelschwanz eines Drachen in
die Tiefe hängend. Prächtige Kletterei, in und neben dieser Mustersammlung von
Kaminen, die immer freier wird, je höher sie bringt, endet nach wohlgezählten
70 m auf der luftigen, geräumigen, schotterigen Garbarikanzel. Als eine völlig glatte,
hohe, runzelfreie Platte ragt nun die westliche Gipfelwand auf, hart und starr, wie
das Antlitz einer Sphinx.

Doch wir wußten des Rätsels Lösung und klommen, der prächtigen Beschrei¬
bung Bergers folgend, über die schmale Felstribüne zur Linken, wie auf einer
Doppelleiter: zuerst hinauf, dann hinab, und standen schon auf dem kleinen, am Nord¬
westrande klebenden Erker, bei der zurückgelassenen Stange der Erstersteiger.

Scheu lugen wir um die Ecke. Wieder huscht der Blick suchend an der

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