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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.41 (1910)
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240 Dr. Hermann Schwarzweber

Jetzt öffnet sich der schwarze Wolkenteppich noch einmal, und ein Blick tut
sich auf! Ein Blick! Ein Stückchen lichten, blauen Himmels mit weißen
Wölkchen drin, in unerreichbaren Höhen schwebend! So blau, so licht, so rein!
Wie dein ganzes Bild, Durreck! Etwas Reines, Jungfräuliches, etwas Unberührtes
liegt über deiner ganzen einsamen Landschaft ausgebreitet. So müssen die ersten
Bergfreunde die ganze Alpenwelt vorgefunden haben. So einsam, ruhig und still.

Nun kommen die tiefen, schwarzen Wolken auch zu mir, und die leuchtenden
Lichter an den furchtbaren Plattenwänden werden scharf und kalt. Einsam wird
es um mich auf meiner Wieseninsel, und ich gedenke der lieben Menschen, die
ich da oben gefunden. Wie in den alten, so fernen Tagen der Gastfreundschaft
hat uns der Schweigerbauer auf Großklausen aufgenommen, und gar manch traute
Stunde sind wir beim Lampenschein im Herrgottswinkel zusammen gesessen;
gar manche fröhliche Überraschung haben wir in seiner Küche bei den ungeahnten
Produkten unserer Kochkunst erlebt. Und auch gar manche weniger erfreuliche.
Aber es waren doch so schöne Stunden, verlebt mit treuen, aufrichtigen Freunden,
lieben Berggefährten.

Wie eine fürsorgliche, liebende Mutter für ihre Kinder, so ist das Durreck
für die Menschen, für die Bergfreunde. Für jeden hat es etwas. Der eine will
nur schöne Aussicht genießen, keine Fährlichkeiten, nicht zu große Mühen auf
sich nehmen: da ist der Mostnock, der „Schwarze Spitz". Der andere will wag¬
halsige Kletterstückchen: er wähle die Seitengrate ins Ahrntal. Der dritte will nur
Spaziergänge: er gehe in die wundersamen Hochtäler, besuche die stillen Seelein.
Ja, die Seelein im Durreck! Tief atmen sie unter dem Bergwind, der von der
Höhe kommt, und leise raunen sie sich zu von stiller Einsamkeit der stillen
Täler. Wie liebe Mädchenaugen sind sie, so lieb, so verschlossen und so rätselhaft.
Und wer ihre Rätsel lösen wollte, hätte wohl auch ihren Zauber zerstört. Denn
da oben ist ein Zauberland. Ein stiller Frieden zieht in jedes Herz und doch
ein heißer Drang zum Leben. Das Leid verebbt, die Sehnsucht schweigt und
heißes Weh verlischt. Bestehen bleibt der goldenen Erinnerung lebender Schatz.

Nun will ich wieder zu euch hinabsteigen, ihr Täler und weißen Häuschen;
zu meinen Lieben weit draußen will ich frohgemut wandern mit leuchtenden
Erinnerungen, bis wieder ein Jahr um ist und mein Pickel fröhlich zu wandern
anfängt. Habt Dank, ihr Berge des Durrecks!

Durreck! Könnte ich deine Weise erfassen und könnte ich sie wiedergeben,
den Grundton und die Grundharmonie deines Wesens. Wie ein schlichtes, deutsches
Volkslied bist du, das man singt im Frühling und Sommer, wenn der Feierabend
still ins Tal hereinlugt; leise, schwermütig, lieb. Und doch klingt mit dem violetten
Schimmer der Rieserferner und mit dem roten Leuchten der fernen Dolomiten
eine fremde Weise mit, sonnig und frohlockend. Stets hell und rein, licht und
klar, wie ein Madonnenbild mit seligem Lächeln, so tratet ihr mir entgegen, ihr
Berge und Himmel des Südens. Du aber kamst mir entgegen wie die deutsche
Muse, mit wehenden Haaren, still und verschlossen, und tief birgst du deinen
Reichtum und groß scheint dein Auge aus deinen Seen auf mich. Wenn der
Sturm um die Jöcher heulte und Regenschauer uns entgegentrieb, habe ich dich
betreten, aber auch wenn zwischen gewaltigen Wolkenbänken der Strahl der Sonne
leuchtend und vergoldend in den Talgrund fiel. Wenn in das Knattern des Donners
Felsstürze krachten und mein Pickel im Hochgewitter summte und knisterte.
Und wenn dein Bild in einsamen Tälern über einsamen Seen mir erschien, so
still, so traut und lieb, dann hab ich geahnt und gefühlt, was du bist, Durreck!