/ 348 pages
Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.41 (1910)
Search


Zwischen Sixt und Barberine 85

ZWISCHEN SIXT UND BARBERINE (DIE
BERGE VOM MONT BUET BIS ZUR TOUR
SALLIERE) VON OSKAR-ERICH MEYER

Jeder echte Bergsteiger hat eine Heimat in den Bergen. Auch wir, die wir
drunten in der Ebene wohnen. Und ob einer den ganzen Zug der Alpen durch¬
wandert hat, es wird für ihn eine kleine Gruppe in dem großen Kranze geben, zu
der seine Sehnsucht aus dem lauten Lärm der Städte an langen Winterabenden
heimwärts wandert; aus der ihm die Erinnerung fließt wie ein klarer, unerschöpf¬
licher Quell; eine Gruppe, die allein und immer wieder in seiner Vorstellung
aus dem Dunkel des Gewesenen taucht, wenn er das Wort „Alpen" hört. Nicht
weil diese Gruppe großartiger denn andere wäre, oder weil ihm hier der Erfolg
Lorbeerkränze um die Eisaxt gehängt hätte — nur weil ein Zufall gerade diese
Gruppe als erste seinem jungen Wollen wie einen Aufruf zur Tat entgegenstellte;.
nur weil ihn diese Berge einst zum Bergsteiger machten.

Und ob er nicht darin geboren wurde, er liebt diese seine Heimat in den
Bergen, weil sie den ersten Torheiten des jungen Führerlosen freundlich war;
weil sie ihn an den Abgrund führte, ohne ihn hinabzustürzen; weil sie sein
Leben hart in die Hand nahm, um es ihm wider Verdienst lächelnd zurückzu¬
geben. Sie ließ den Stein warnend auf ihn zupfeifen und lenkte seinen Flug
im letzten Augenblick von seinem Haupte; sie stieß die morsche Schneebrücke
polternd in die Kluft, ehe sein unwissender Fuß sie betreten. Und sie machte
seine Augen auf, über denen das blinde Wollen wie ein Schleier leg, und lehrte
seinen Geist, unsichtbare Linien durch das Spaltengewirr zu ziehen, die Kamine
mit den Felsbändern zu verbinden und so dem Fuße vorzuarbeiten auf dem Wege,
der zu den Höhen führt. . ..

Und ob ich seitdem manchen Berg bestiegen, der größeren Reichtum zäher
zu verteidigen weiß als jene Höhen in Nordsavoyen, keine Gruppe der Alpen
steht meinem Herzen näher als die Berge um Sixt.

Eine Liebe, die nicht durch Maß und Vergleich ihren Sinn erhielt, verblaßt
nicht vor dem, was schöner oder gewaltiger ist. Sie besteht, wie die Berge be¬
stehen, und fragt nicht warum. So kam ich wieder und wieder. Ein paarmal
allein, meist mit einem Gefährten, der hier so heimisch ist wie ich. Nirgends
wanderten wir so unbekümmert wie hier, ohne den Hintergedanken des Ehrgeizes,
ohne die Sucht nach klingenden Namen. Wir stiegen in das Sonnenlicht eines
klaren Tages hinauf oder in das Grau der Wolken hinein, die den Regen in
hohlen Händen hielten. Wir wandten uns talwärts, wann es uns gefiel, oder eilten
die Grate entlang und verbannten die Sorge um ein schützendes Dach. Trat uns
der Abend auf den Höhen entgegen, so sahen wir im Schütze der Mauer, die
wir wie spielende Kinder aus Stein erbaut, den Sternen zu, die mit goldenem
Finger ihre Kreise zogen.

So habe ich nur die Erinnerung, die mir die Feder führt, und ehe sie
manchen der Tage wieder findet, von denen ich erzählen will, muß sie das Grau
von Jahren durchdringen, die ihren Schleier darüber gebreitet. Die Erinnerung;
und ein beflecktes Kartenblatt, auf dem das kalte Licht der Lampe liegt. Doch

*