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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.42 (1911)
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98 Dr. Walther Fischer, Dr. Gustav Kuhfahl und Oscar Schuster

AUS DEM ZENTRALEN KAUKASUS. VON
DR. WALTHER FISCHER, DR. GUSTAV KUH-
p d FAHL UND OSCAR SCHUSTER □ u

I. DURCHS LAND DER OSSETEN
VON DR. GUSTAV KUHFAHL

Wenn man die Eindrücke und Erinnerungen
einer fünf- bis sechswöchigen Kaukasusexpe¬
dition mit denen vergleicht, die bei ähnlichen
Unternehmungen in den europäischen Alpen gewonnen werden, so läßt sich
unschwer erkennen, daß die vergletscherten Regionen des Kaukasus für den
Kenner der alpinen Hochgebirgslandschaft keine allzugroßen Geheimnisse bergen.
Die ähnliche Durchschnittshöhe beider Gebirgsmassen, ihre Lage auf benachbarten
Breitegraden, sowie ihr gleiches Verhältnis zu weitgedehnten Kontinenten und
Meeresflächen bringt es ohne weiteres mit sich, daß die bekannten Erscheinungen
der europäischen Gletscherwelt sich mit allen charakteristischen Einzelheiten auch
an den asiatischen Hochgipfeln vorfinden, daß die Witterungsverhältnisse einander
gleichen, und daß nebenbei auch die Pflanzen- und die Tierwelt der Hochregionen
im allgemeinen dieselben Vertreter aufweisen, wie sie in den Hochalpen heimisch
sind oder doch vor dem Überhandnehmen menschlicher Kultur dort zu treffen
waren. Der geübte Bergsteiger begegnet beim Vordringen nach den kaukasischen
Höhen also auch gewohnten Schwierigkeiten; er sieht sich auf Fels und Firn den
gleichen Gesteinsformationen und Gletscherbildungen, denselben Gefahren von
Steinfall oder Lawinen, Nebel oder Blitzschlag gegenüber und muß die Einflüsse
von Hitze und Kälte sowie die dünne Luft mit ihrer augentäuschenden Klar¬
heit u. a. m. in Betracht ziehen.

Absonderliche und eigenartige Eindrücke dagegen gewinnt der europäische Be¬
sucher des Kaukasus in den tieferen Gebirgslagen, sei es, daß diese mit ihren
Schluchten und Wäldern, ihren wilden Gewässern und ihrem Getier noch in dem
natürlichen Urzustände zu treffen sind, den unsere Alpentäler nirgends mehr auf¬
weisen, sei es, daß sie den Stempel einer menschlichen Kultur tragen, die uns
Westeuropäern ihrer Art und ihrem Grade nach durchaus fremdartig vorkommt.
In den niederen Gebirgsgegenden, wo der Alpenbesucher stets auf ausgebauten
Verkehrswegen aller Art in völliger Sicherheit und Bequemlichkeit reisen kann,
dort sieht sich der Kaukasuswanderer bereits für Fortkommen, Unterkunft und
Verpflegung fast vollständig auf sich selbst angewiesen. In wohlvorbereiteter
umständlicher Weise muß aller Lebensbedarf samt der bergsteigerischen Aus¬
rüstung auf Tragtieren mitgeführt und sorgfältig gehütet werden. Bei der Unsicher¬
heit vereinzelter Bezirke wird man auch einige Schußwaffen sichtbar tragen, zu¬
mal die Eingebornen gewöhnt sind, selbst die russischen Verwaltungsbeamten,
die Ortsvorstände und andere Respektspersonen stets in voller Bewaffnung zu sehen.
Wenn anderwärts mit der Beendigung einer Hochtur oder eines Talmarsches
die Zeit der Erholung und Körperpflege gekommen ist, so beginnt bei kaukasischen
Bergfahrten erst noch eine Menge ermüdender Kleinarbeit beim Abladen und
Versorgen der Tiere, beim Aufschlagen der Zelte, bei der Bereitung des Essens
und bei der Vorsorge für den kommenden Tag. An sonnigen, regenlosen Tagen
gewinnt solch Zigeunerleben zwar einen gewissen Reiz, dieser schwindet aber