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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.42 (1911)
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Aus dem Zentralen Kaukasus 99

bereits nach wenigen Wiederholungen und wandelt sich ins Gegenteil, wenn
Regen und Kälte selbst das poetischste Gemüt enttäuschen. Auch die eigentliche
Nachtruhe im dünnen Flanellschlafsack und auf hartem, steinigen Boden läßt noch
viel von den bescheidenen Bequemlichkeiten vermissen, die der Alpinist auf den
Matratzen- und Heulagern unserer Schutzhütten findet.

Die Eigenheiten des Karawanen- und Lagerlebens führen deshalb stets zu be¬
sonderer Kraftvergeudung und Zeitverschwendung, so daß sie auf das körperliche
Wohlergehen und damit auch auf das Gelingen der eigentlichen Hochturen einen
erheblichen Einfluß ausüben; sie müssen also sowohl bei der Planung, wie bei
der Beurteilung kaukasischer Bergfahrten stets als besonders erschwerender Um¬
stand mit in Rechnung gezogen werden.

Zu dem Gesamtbilde einer Expedition gehören schließlich auch die vielen fremd¬
artigen Eindrücke, die sich dem Kaukasusbesucher im Bereiche der menschlichen
Niederlassungen auf Schritt und Tritt aufdrängen; den beiden Hauptberichten meiner
Gefährten Oscar Schuster und Dr. Fischer über die hochturistischen Unter¬
nehmungen im Gebiete des Midagrawin-GIetschers und des Adai-Chochs möge des¬
halb hier eine kurze Erläuterung unserer Absichten und eine Schilderung von
unserem Zuge durchs Land der Osseten vorausgehen. —

Wir drei Dresdner hatten uns zu dem Unternehmen entschlossen, nachdem
die Beteiligung eines sprachkundigen Gefährten, des Dozenten der Universität
Riga, Viktor von Friedrichs, den zweifelhaften Verkehr mit bezahlten Dolmetschern
überflüssig machte und uns die Gewähr zu bieten schien, daß wir unter den un¬
gewohnten russischen Verhältnissen rasch und sicher vorwärtskommen und nicht
allzusehr überteuert würden. Bedrohliche Nachrichten über die Ausbreitung der
Cholera in Rußland brachten zwar den ganzen Plan in letzter Stunde beinahe
zum Scheitern, denn wir konnten die Fahrt erst antreten, nachdem wir uns ver¬
sichert hatten, daß auf der Hin- und Rückreise voraussichtlich kein Aufenthalt durch
Quarantäne-Maßregeln entstehen würde. Vorher unterzogen wir uns übrigens noch
beim Berliner Institut für Seuchenkrankheiten einer Schutzimpfung gegen Cholera.

Für die allgemeine Gestaltung unseres Reiseplanes fiel zunächst der Umstand
ins Gewicht, daß mehreren Teilnehmern nur eine bestimmt bemessene Urlaubs¬
frist zur Verfügung stand, und daß außergewöhnlich hohe Reisekosten vermieden
werden sollten. Infolgedessen richteten wir unser Augenmerk ausschließlich auf
die Nordseite des Gebirges, die von Deutschlaud aus auf dem Landwege ziem¬
lich rasch zu erreichen ist. Wir wollten versuchen, im westlichen Teile der
Kasbekgruppe, in der anschließenden Tepligruppe oder im Bereiche des
Adai-Chochs einige noch unbetretene Hochgipfel zu ersteigen. Als Ausgangs¬
punkt sollte die Gouvernementstadt des Terekgebietes, Wladikawkas, dienen.

Die vielseitigen Vorbereitungen für die Expedition hatten wir derartig unter
uns verteilt, daß Dr. Fischer die Besorgung der Proviantfrage übernahm und
schon daheim genaue Listen nach Art und Menge der nötigen Einkäufe auf¬
stellte; Oscar Schuster brachte aus seinem Besitz das gesamte Lagergerät an
Zelten, Kochzeug, Packsäcken sowie die bergsteigerische Reserveausrüstung mit
und übernahm das eingehende Studium der einschlagenden Literatur, während
mir die Beschaffung der photographischen Ausrüstung zufiel.

Herr von Friedrichs vermittelte bei den russischen Behörden die Überlassung
von Geleitbriefen und militärischen Karten.

Nach fünftägiger, beinahe ununterbrochener Schnellzugsfahrt, auf der wir in
Dünaburg (Dwinsk) verabredungsgemäß mit unserem Rigaer Gefährten zusammen¬
trafen, langten wir am 14. Juli nachmittags in Wladikawkas an. Inmitten des
bunten interessanten Straßenverkehrs wickelte sich sofort eine unserer wichtigsten