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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.42 (1911)
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166 Eleonore Hasenclever

Bergvater nichts, denn sonst hätte es wohl ein Donnerwetter gesetzt und vielleicht
Stubenarrest dazu. Blut konnte er nicht gut sehen. Lachend sagte ich ihm, der
wie viele Führer abergläubisch war: Xander, vorwärts fallen bringt Glück!" Und
er war es zufrieden. Mein Bein habe ich hernach aber sorgfältig verbunden.

Am frühen Morgen des nächsten Tages wanderten wir der rauschenden Lanza
entlang nach Ried. Hunderte von Italienern arbeiteten hier an der Goppen-
steiner Bahn, deren Bau schon so viele Menschenleben gekostet hat. Das Löt-
schental hatte seinen Frieden verloren, erst vor Ferden konnten wir uns des lieb¬
lichen Tales wieder freuen. Nur das Läuten der Glocken — es war Sonntag —
unterbrach die Stille. Frohe, glückliche Menschen gingen, meist Hand in Hand,
in der hübschen Tracht des Tales zur Kirche und riefen uns freundlich »Guten
Tag gewünscht" zu. Und auch wir wanderten guter Dinge dahin. Da wir wußten,
daß wir einander verstanden, hatten wir uns viel zu erzählen, und auch wir
gingen ja in unsere Kirche: in die geliebten Berge — der Bergvater und „sein
Kind", wie er mich so gerne nannte. —

Bei Kippel trat zuerst das mächtige Bietschhorn heraus. Silbern schimmerten
die mit Neuschnee bedeckten Hänge. Hie und da drangen die Sonnenstrahlen
durch das Gewölk und strichen wie kosend über den wilden Nord- und West¬
grat, von denen der letztere uns zum Gipfel führen sollte. Und wie verändert
sah das Bietschhorn heute aus: wohin man auch schaute, Schnee und wieder Schnee.
Die ältesten Leute wußten sich nicht eines so späten und starken Schneefalles
zu erinnern, wie er im Juni 1908 die Schweiz heimgesucht hatte. Geknickt
und zerbrochen lagen die Bäume am Wege, ein trauriger Anblick. Daß dieser
Schnee schwere Arbeit machen würde, war uns klar. Wir näherten uns nun dem
1509 m hoch gelegenen Ried und um 9^2 Uhr betraten wir das gastliche Nest-
hornhotel. Seit zwei Tagen erst hatte der Wirt mit Köchin und Magd seinen
Einzug für den Sommer gehalten, wir waren die ersten Gäste, die umso freu¬
diger begrüßt wurden. Bei leckerem Mahle ließen wir es uns bald gut sein.
Der Fendant perlte in den Gläsern und fröhlich klangen diese zusammen.
Doch das Wetter wurde immer unbeständiger, ein Tropfen fiel nach dem anderen
und endlich ging ein wundervoller Landregen nieder. An den Aufstieg war nicht
zu denken, so blieben wir denn gemütlich in Ried. Alexander war dringend
beschäftigt und vergaß ganz das obligate Fluchen aufs Wetter. Ich hatte ihm
die seit langem gewünschte Meerschaumpfeife mitgebracht und nun freute er sich
wie ein Kind und ließ die Pfeife nicht mehr aus dem Munde, ausgenommen,
wenn er der Köchin den Garibaldimarsch, sein Leib- und Magenstück, vorspielte.
Regen und Sonnenschein lösten einander ab. Auch mir wurde die Zeit des
Wartens nicht lang. Im Lesezimmer fand ich eines der interessantesten Fremden¬
bücher, die ich je gesehen. Männer wie Stephen, Freshfield, Coolidge, Dent,
Zsigmondy, von Fellenberg, K. Schulz, Flender, Purtscheller und viele andere
haben hier ihre Aufzeichnungen eingetragen. Das Bietschhorn hatte sie alle her¬
gelockt. Im Jahre 1859 besiegte Leslie Stephen als Erster über den Nordgrat den
herrlichen Berg. Dann gelang die Besteigung von Fellenberg im Jahre 1867,
und zwar ging sein Aufstieg über den Westgrat und sein Abstieg über den Nord¬
grat. Später mißlangen mehrere Versuche. Erst wieder im Jahre 1871 erreichte
Coolidge mit seiner Tante und vier Führern, an deren Spitze der berühmte
Christian Almer stand, das Bietschhorn auf dem Wege Fellenbergs. Die Brüder
Zsigmondy haben dann die Ostwand bezwungen, ein Weg, auf dem ihnen bis
jetzt, wie ich glaube, keiner gefolgt ist. 1 )