Eine Besteigung des Bietschhorns 165
EINE BESTEIGUNG DES BIETSCHHORNS (ZUR
ERINNERUNG AN ALEXANDER BURGENER)
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VON ELEONORE HASENCLEVER
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Seit einer Reihe von Jahren verband mich mit Alexander Burgener treue Freund¬
schaft. Wanderungen zu zweien, die damit verbundene gegenseitige Verantwortung
und vor allem und im besonderen die gemeinsame Liebe zu den Bergen haben
uns zu Freunden gemacht. Noch zwei Tage vor seinem Tode schlug mir der
Vielgewanderte ein Wiedersehen in Grindelwald vor. Wer hätte gedacht, daß es
ein so überaus trauriges sein sollte! Als ich zufällig von dem Unglück an der
Berglihütte las, konnte ich gerade noch den Zug erreichen, der mich rechtzeitig
nach Grindelwald brachte, um meinem langjährigen Führer und Freund das letzte
Geleite zu geben. Mit seiner Familie hielt ich den Alten gefeit gegen alle Unbill
des Gebirges. „Mir passiert nie nix" — wie oft hatte er mir das gesagt. Es
waren lediglich die objektiven Gefahren durch Lawinen, Steinfall und Blitzschlag,
die er fürchtete. Und nun in seinem 66. Lebensjahre, nachdem Erfolg und Ehre
seine Taten in reichem Maße gekrönt, fiel er ihnen dennoch zum Opfer! Man
mußte diesen schwer zugänglichen Menschen kennen, um seinen Wert zu ver¬
stehen. Er war ein ganzer Mann! Ihm verdanke ich die schönsten Erinnerungen
in den Bergen und aus der Fülle dieser Erinnerungen will ich nun eine der
schönsten: die Besteigung des Bietschhorns, schildern.
Als eine wohlbewahrte Feste steht in der Kette des Berner Oberlandes dieser
Gipfel gegen Süden als Trutzberg, ein Wahrzeichen des Gewaltigen, Großen.
Das Bietschhorn zu besteigen, das mit Recht das „Matterhorn des Bemer Ober¬
landes" genannt wird, war seit langem mein Wunsch. Wie oft hatte ich von
seinen stammverwandten Rivalen oder von den Wallisern aus die hehre Feste
bewundert. Ihre schier abweisende Größe hatte meine Kampfeslust geweckt.
Mit ganzer Begeisterung nahm ich deshalb Alexanders Vorschlag, das Bietschhorn
zu besteigen, an.
Am 4. Juli 1908 traf ich mit meinem alten Lehrmeister nach einer zwanzigstündigen
Bahnfahrt in Gampel im Rhönetal zusammen. Schon von weitem sah ich die markige
Gestalt des alten Recken, und als ich ihm dann endlich die festen Hände drückte,
da war die Wiedersehensfreude so groß, daß wir uns am liebsten um den Hals
gefallen wären. Prachtvoll sah er aus, das gefürchtete Alter tat ihm nichts. Wie
blitzten seine Augen in unbesiegbarer Kraft! Alexander schulterte meinen Koffer
über den Pickel, während ich den mit allen möglichen und unmöglichen Dingen
ausgestopften Rucksack, der schön rund war wie ein Ballon, auf die Schultern
schwang; bis zu dem Hotel hatten wir nur 20 Minuten zu gehen, da lohnte sich
das Umpacken nicht. Und so balancierte ich munter auf zarten Stadtstiefelchen
dahin. Unsere Freude war so groß, wir hatten uns so lange nicht gesehen, daß
ich des schlechten Weges nicht achtete. So kamen wir zur Rhönebrücke. Die
Planken haben sich mit der Zeit gebogen und liegen sehr unregelmäßig. Mein
Absatz blieb hängen, ich stolperte, und lag plötzlich auf der Nase, gerade vor
einem Lastfuhrwerk. Mein Rucksack war äußerst widerspenstig, wir konnten
uns gar nicht ins rechte Einvernehmen setzen, bis ich mich samt dem Ruck¬
sack auf die Seite rollte und die Bahn frei machte. Ich hatte nichts anderes
mitbekommen, als eine böse Wunde am Knie. Selbstverständlich sagte ich meinem
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