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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.43 (1912)
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296 Dr. Günter Dyhrenfurth

durch Val Trupchum ins Engadin und hinüber zum kühnen, turmförmigen Piz
Fier, unserem morgigen Ziele.

Wir waren erst die vierte Partie auf dem Monte Saliente 1 ), und zwar war
bisher nur der Ostgrat von der Corna dei Cavalli her und der Südwestgrat zur
Fuorcla Trupchum begangen worden; unser Aufstieg aus dem Cantonetal war also
neu, ebenso die nun folgende Überkletterung des langen zum Piz Fier hinüber¬
ziehenden Nord- (genauer NNW.-) grates, auf dem die Grenze verläuft. Vier
mächtige Türme trägt dieser Grat, die nach Norden zu allmählich niedriger werden
und von denen der erste und zweite sich auf gemeinsamem Sockel erheben,
während der dritte und der vierte eine gewisse Selbständigkeit bewahrt haben. In
hübscher und abwechslungsreicher Kletterei 2 ) strebten wir, meist ziemlich genau
auf der Gratkante, nach Norden; eine besondere Erwähnung verdient nur ein
15m hoher Abbruch am dritten Gratturm, der auf einem Kriechband und über
eine sehr steile, aber gutgriffige Wand der Westseite bezwungen wurde. Von der
tiefsten Scharte zwischen Fier und Saliente, die dem Piz Fier bereits nahe liegt,
stiegen wir über Geröll und Schneefelder nach Osten zum Zeltplatz ab.

Über Nacht war mein Aneroid stark gefallen und der Wind nach Süden um¬
gesprungen, doch hofften wir, den Piz Fier noch erreichen und über den Diavel-
paß nach Zernez zurückkehren zu können. Als wir kurz vor 6 Uhr den uns
so lieb gewordenen Zeltplatz verließen, war der Himmel noch ganz wolkenlos;
als wir am Südfuße des Fier standen, bildeten sich fern im Süden bereits
Wolken, doch sah das Wetter noch immer ganz befriedigend aus. Einige Zacken
meist auf der Westseite umgehend, kamen wir bis an den Fuß eines Turmes,
den wir für den Gipfelturm hielten und der uns ernste Arbeit versprach. Während
ich die Kletterschuhe anzog, betrachtete ich wieder einmal das Wetter; wie hatte
sich das im Laufe der letzten beiden Stunden verändert! Überall im Süden stan¬
den jetzt drohende schwarze Wolkenmassen! Drum schnell, vielleicht können wir
dem Wetter noch zuvorkommen!

Gleich der erste Überhang, mit dem die Wandkletterei begann, war äußerst
schwierig; Spitz mußte mir erst den rechten, dann den linken Fuß mit dem
Pickel unterstützen. Langsam arbeitete ich mich, dauernd sehr schwer, etwa
10 m hinauf, rastete einen Augenblick auf einem Gesims und betrachtete wieder
das Wetter: Es verschlechterte sich von Minute zu Minute, schon flogen die
dunklen Schneewolken über die Berninagruppe herüber, in Pontresina regnete
es bereits! Unter diesen Umständen durfte man nicht wagen, eine so schwere
Kletterei weiter fortzusetzen, also zurück! Aber wie? Frei kletternd kam ich
jedenfalls nicht glücklich hinunter und eine natürliche Abseilmöglichkeit gab
es nicht. Also Rebschnur, zwei Mauerhaken und Hammer herauf!" Der erste
Mauerhaken streikte, die Spitze krümmte sich und brach ab; doch der zweite
ließ sich in einen engen Spalt eintreiben, und ich führte, am doppelten Seil
hinunterkletternd, einen gut geordneten Rückzug" aus.

Inzwischen hatte Sp. rekognosziert und auf diese Weise festgestellt, daß es
sich überhaupt erst um einen Vorturm handelte, der auf der Westseite unschwer
zugänglich ist; der Gipfelturm, dem der Fier seine auffallend kühne Gestalt ver¬
dankt, lag erst dahinter. Doch dazu war keine Zeit mehr, denn schon begann es
zu regnen und zu schneien; wir zogen uns also die Batistsachen an, frühstückten
und begannen den Abstieg. Ein Versuch, noch den Diavelpass zu überschreiten,
wurde durch das mit aller Wucht hereinbrechende grobe Sauwetter" verhindert;

*) Erstersteigung des Monte Saliente durch Democrito Ersteigung durch Rintldo Plazii mit Pietro Ri-

PHna au* Mailand mit Fuhrer Giuseppe Krtp- naldi über den Ostrrat.

paeher am 6. Juli 1896(?) über den Südwestgrat, zweite ») Siehe meinen Turenberichtj ö. A.-Z. Nr. 783 (1908).