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Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins Bd.45 (1914)
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Aus der Silvrettagruppe 289

Nachtstunde unserem Ziele zu. Bei recht zweifelhaftem Wetter zogen wir am
4. September um 5 Uhr 15 Min. vom Madienerhause aus; in kühnen Sprüngen
übersetzten wir die zahlreichen kleineren und größeren Arme der III und be¬
traten um 7 Uhr den Gletscher. Dräuend sah der größte Eisbruch Vorarlbergs
vom Hange des Silvrettahorns auf uns einsame Wanderer herab und Purtscheller
trieb angesichts der zerborstenen Eiswand zu größter Eile. Auf dem heute nur
noch selten betretenen Wege, der das Wiesbadener Grätchen" in weitem Bogen
umsäumt, gingen wir unter Purtschellers Führung durch den stark zerklüfteten
Gletscher nach der Buinlücke und arbeiteten uns dann mit einiger Schwierig¬
keit durch den tiefen Neuschnee auf den Großen Buin hinauf. Sieben Stunden
nach unserem Aufbruche vom Madienerhause standen wir auf dem Gipfel. Nur
ab und zu zerrissen die Nebelmassen, dann erblickten wir Teile des Kleinen
Buins, des Linards, der Verstanklahörner und der Litznergruppe. Da Purtscheller
auch die östliche Spitze besuchen wollte und seine Gefährten bei der schlechten
Beschaffenheit der Wächte zögerten, sich ihm anzuschließen, erbot ich mich
schnell mitzugehen. Diesem Umstände verdankte ich es, daß mich Purtscheller
einige Jahre darauf zur Teilnahme an einer Reise in das Berner Oberland ein¬
lud. Am anderen Tage bestiegen Heß, Purtscheller und ich als erste die Tor¬
wache, den kleineren Bruder des Verstanklahorns, und kehrten über Signalhorn
und Eckhorn wieder heim. Am dritten Tage gingen wir, immer vom Mad-
lenerhause aus, durch das Klostertal und über den Gletscherrücken nach dem
Groß-Litzner und eröffneten in doppelter Hinsicht einen neuen Weg auf diesen
berühmten Berg, indem wir an der Litznerscharte wagrecht nach Osten querten
und den Gipfel durch eine Folge von flachen Kaminen erreichten. Den Rück¬
weg nahmen wir durch die steile, zwischen Sonntagsspitze, 2929 m, und Ver-
hupspitze, etwa 2980 m, zum Klostertale sich absenkende Felsschlucht und
landeten wohl zufrieden beim Madienerhause. Seither war ich nicht mehr in
das eigentliche Gebiet der Wiesbadener Hütte gekommen, obgleich ich bei auf¬
merksamerem Lesen unserer Zeitschrift" schon 1910 unfehlbar dahin gegangen
wäre. Im Jahre 1909 erschien nämlich ein Aufsatz aus der Feder des Herrn
H. Cranz aus Stuttgart über die Umgebung des Jamtalerfemers. In dieser Ab¬
handlung findet sich eine Bemerkung, die mir das Blut in die Finger- und Zehen¬
spitzen jagte: Cranz spricht von „der leichten Ersteiglichkeit der Dreiländer¬
spitze von allen Seiten (außer über die bis jetzt und wohl auch ferner jung¬
fräulich steile Eisflanke im Westen)".

SCHNEEGLOCKE, 3225 m
SCHATTENSPITZE, 3222m
SILVRETTA HÖR N, 3248 m

Ich verreiste am 15. Juli 1912 mit meinem
Freunde Herrn Dr. Franz Braun um Mittag
von Parthenen. Bei einer wahrhaft inferna¬
lischen Hitze gingen wir zum Madienerhause
hinauf, wo wir nach mehreren kurzen Rasten um 3 Uhr 30 Min. ankamen. Ein
wundervoller Regenbogen hatte uns bei dem Wasserfall in der Hölle einige Zeit
verschnaufen lassen. In halb gebratenem Zustande betraten wir das unter den
Händen seiner neuen Herren sehr zu seinem Vorteile veränderte Haus. Der
nach althergebrachtem Muster hergestellte Bau sticht ja freilich gegen die aller¬
liebsten neuen Hütten stark ab. Täfelung und freundliches Hausgeräte aber machten
die Räume ganz anheimelnd; allerdings konnte man die kleinen Fenster, die
Schießscharten zum Verwechseln ähnlich sehen, nicht wegzaubern. Bei treff¬
licher Verpflegung und zuvorkommender Bedienung warteten wir vergeblich auf
unseren Genossen Herrn G. W. Gunz, dem sein Beruf nicht gestattet hatte,
gleichzeitig mit uns abzukommen. Um 4 Uhr 30 Min. setzten wir, unter dem ge-

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