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Reise und Fremdenzeitung für Tirol und Vorarlberg (1899-1901)
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Fremden-ZeiMnZ für Tirol und Vorarlberg.

Jahrg.

Kufstein und das Raiftrthal.

ichon an der Schwelle Tirols — an der bayerischen Grenze
um Rufstein — hat die Natur in verschwenderischster Fülle
ihre herrlichsten Gaben ausgestreut, die gerade durch ihren Gegensatz
von zerrissenen, wild zerklüfteten, himmelanftürmenden Zacken und lieb¬
lichen, friedlichen Gelände« so wunderbar wirken.

wenn der Wanderer von Nordosten her sich Aufftein nähert, glaubt
er in ein großes Cheater getreten zu sein, das der liebe Herrgott als
gewaltiger „Direktor der Natur" mitten in den Nordalpen aufgeschlagen
hat. Als Zuschauerraum ist die Ebene zu betrachten, die vor der
Stadt sich ausbreitet und einen trocken gelegten Seeboden darstellt, in
den einst der Inn mündete, bevor es ihm gelang, sich in nordwestlicher
Richtung einen Ausgang zu bohren. Es ist ein hübsches Fruchtland,
mit Feldern und wiesen, Stadeln und Wohnhäusern bedeckt, von der
Bandstraße nach Ebbs durchschnitten und an der Westseite vom rasch
dahineilenden Inn begrenzt. Als wände erscheinen auf der Südost¬
seite die vorberge des hohen Raisers, über welche die Zacken und Zinken
des majestätischen Hochgebirges neugierig hereinschauen, auf der West¬
seite dagegen die Reihen der jDendlinggruppe.

vordem
Wanderer zie¬
hen sich vom

Raiser zum
pendling drei

Hügel quer
über das

Thal: der

Ralvarien-
berg, der

Geroldstein

und der
Zeilerberg, die
man als na¬
türliche Cou-
lissen des herr¬
lichen 3and>
schafts-

theaters an¬
sehen kann.
Uni den be¬
gonnenen
Vergleich
fortzuführen,

wolle man
zwischen dem

Gcroldstein und dem Zellerberg hindurch auf die Vühne blicken. Dort
wird eine ewige Scene gespielt, die nie ermüdet und langweilt; die Er¬
habenheit der Natur ist fast ohne Gleichen. Verg um Verg taucht auf,
wie Personen des Spiels, jede etwas anders geartet und von unterschied¬
licher Größe; die Gratlspitze und das Rellerjoch stehen an der einen
Flanke, während auf der anderen Seite die waldige Vergwand läuft,
und in der Glitte sich der majestätische Inn durchdrängt. Näher heran
erblickt man hinter einem gegen das Thal heraus gerückten, fichten¬
bestandenen Höhenzug die Gegend von Schwoich und Häring, während
sich darüber der Häringer f)ölven erhebt. Die eigentliche Schatzkammer
der Natur Ruffteins ist der A aiser, das charakteristische Gebirge des
Unterlandes, überreich an landschaftlichen Schönheiten und interessanten
Sagen. Ein ganz besonderer Zauber ist dem Raiser eigen: Dem An¬
kömmling aus dem nahen Flachlande, z. V. aus der benachbarten
Großstadt München eröffnet er schon nach kurzer, müheloser
Wanderung aus Rufstein den Einblick in die großartigste Gebirgs-
welt, wie man sie herrlicher und überwältigender auch im Innern des
Landes nicht mehr schauen kann. Man gelangt an dem romantischen
Sparchen und an der Geisterschmied-Wand vorüber dahin. Erquickender
Duft von den Nadelholzbäumen, wasserrauschen, Fels und Steingeröll,
dann wieder hübsche Gasen und Bauernhöfe, und das Hinterbärenbad
empfängt uns mit lautere,» Wohlwollen. <Das Vad ist kürzlich ab¬
gebrannt und wird wieder aufgebaut.) Der gewaltige Raiser bildet
ein Seitenstück der Dolomitenwelt im Süden; überall starren die Schrofen,

Zinken und Spitzen wild in die Cüftc, er bietet ein Vild grandios
fesselnder Schönheit, noch gehoben durch den Reiz des Kontrastes lieb¬
licher, das Auge erquickender Alpcntriften. vorgelagert ist dem eigent¬
lichen Raiser-Gebirge der Rufsteincr Stadtberg, das Vrentenjoch, der
Gamsberg, der Rienberg und das Durerköpfl.

Das Wahrzeichen Rufsteins in, Westen ist der f) en d li ng (5562 m);
seine runde Ruppe ist mit Wald bedeckt und seine steilen Flanken senken
sich theilweise in kahlen Felswänden nieder. Gegen Norden erhebt sich
der Thierberg mit seiner Einsiedelei, seinem „iueg ins 3and-Thurmc"
auf der Spitze, seinen thaufrischen wiesen und schattigen Wäldern um
Ed und Stafing am Fuße und dahinter erhebt sich noch die Spitze
des Vrünnstein. Den Rand umsäumen vier reizende Gebirgsseen, wahre
perlen der nächsten Umgebung Ruffteins. Am Ende des Thierberges
liegt das erste bayerische Dorf Riefersfelden und nun stehen wir im
Angesichte der Niederndorfcr Verge, die als Rückwand des Zuschauer¬
raumes das großartige Gebirgstheater im Norden abschließen. Die
Scene wechselt hier so wohlgefällig, wie die Sonne nach einem Gewitter¬
sturm. Ein sanft aussteigendes, schön gesonntes Mittelgebirge, in voller
Vlüthe herrlicher Getreide- und wiesengründc, da und dort mit Wald-

beständen

durchzogen,

streicht längs

des Inn-

thales bei

Ebbs,

Niederndorf
und Erl bis
an die Grenz¬
berge gegen
Vayern.

Die Ge¬
birgskette
zeichnet sich
durch bilder¬
reiche, scharf
ausgeprägte
Formen und
interessante
Stellungen,
sowie durch

eine anzie¬
hende, lebendig grüne Bekleidung, übersät mit stattlichen Vauern-
gehöften aus. An einer Stelle ist eine sanfte, aber tiefe Ein¬
sägung zu erblicken, die uns in, Geiste hinausträgt in das schöne
bayerische Hochland uni den Chiemsee. — Am Fuße des Rufsteiner
Raisers zieht sich der weg, bei Sebi vorüber, nach dem idyllischen
walchsee hin.

Durch die vollkommene Ausbildung der Vor- und Mittelgebirge
und durch ihr günstiges Verhältnis zum Hochgebirge ist eine Mannig¬
faltigkeit der Gliederung und reiche Abwechslung in der Giuppierung
geschaffen, welche die Umgebung von Rufstcin ganz besonders auszeichnet.
Vald führt der weg aufwärts zu einer Waldeslichtung oder auf einen
Bergrücken mit herrlicher Aussicht; bald nach kurzem Anstieg durch
Feld und Wald zu still-träumerischen Vergseen; bald nach steilerem
Anstieg zu einem Hochthal mit blumigen wiesen, Alvcnhängen und
Gemsenweiden bis zu den hohen Steilwänden des Wilden Raisers;
bald über die „Steinerne Stiege" zum Hinterstein-See ini lieblichen Hoch-
thale an der Südseite des Raisers. Endlich hat die Umgebung v?n
Rufstein einen Vorzug, der den vorhin genannten erst ganz besonderen
werth verleiht. Verg und Thal, wiese und Wald sind nicht nur
schön für das Auge sondern auch nahegerückt und bequem erreichbar.
Durch die Nadel- und Laubwälder und auf die Höhen führen gut mar¬
kierte Wege, die von Strecke zu Strecke mit Ruheplätzen versehen sind-
Zahlreich angebrachte Tafeln bezeichnen die Richtung des Weges, viel¬
fach auch die Zeitbestimmung oder die Gehweite von einem Orte zum
andern. Durch Anlage von wegen, die eben oder mit nur geringer
Erhebung sich durch den Wald ziehen, anderer, die auf die Höhe in be¬
trächtlicher Entfernung hinaufführen, ist allen Ansprüchen an die leichte
Zugänglichkeit einer herrlichen Natur reichlich Rechnung getragen.

Uufstein, von der 5parchen aus gesehen, mit ber
Teufelskanzel im Uaiserthale.