Nr. 14.
Mittheilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins.
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eingestehen. Er wird dann nicht so leicht gegen die unglück¬
lichen Opfer solcher Gefahren den Vorwurf frevelhaften Spieles
mit dem eigenen Leben erheben, wenn er sich diesem Vorwurfe
■wegen seiner Unternehmungen nicht selbst aussetzen will. Wie
nahe Letzteres liegt, zeigt sich gerade hier recht deutlich, wo
man unmittelbar vor dem Schlussworte des Herrn iforman-
Neruda die begeisterte Schilderung einer unter seiner Bethei¬
ligung unternommenen, sehr riskierten Klettertour auf die Gras-
leitenthürme findet, bei welcher der Hauptreiz für die Theil-
nehmer doch nur in den dabei zu bekämpfenden Schwierig¬
keiten und Gefährlichkeiten gelegen hat. Wie nun, wenn Herr
Norman-Neruda bei dieser Bergfahrt verunglückt wäre? In
welche Rubrik hätte der „rücksichtslose Statistiker" diesen Un¬
fall zu stellen gehabt?
Dr. Schelcher,
Dresden.
Unfall im Montblancgebiete.
Am 12. Juli wurde eine aus
Herrn v. Holzhausen aus Frankfurt, Frau
Men
den aus
Brüssel, deren Kammerdiener, ferner aus drei Führern und
einem Träger bestehende Partie bei dem Abstiege vom Mont¬
blanc von einem Unfälle betroffen. Herr v. Holzhausen
theilte darüber der „Kleinen Presse" folgende Einzelheiten
mit: „Der Schnee war sehr weich geworden, die Beschreitung
desselben erforderte die äusserste Vorsicht, welche denn auch
von den Führern und den drei Touristen nach jeder Richtung
wahrgenommen wurde. Etwa 4 St. hatte der Abstieg gedauert;
glücklich war man schon ziemlich am Ende des Gletschers
angekommen, woselbst das Gletscherseil abgelegt wurde. Die
Gesellschaft bewegte sich eben an dem Rande des Gletschers
hin, da durchdrang die Luft ein schreckliches Getöse, etwa
vergleichbar mit dem Donner eines aus einem Tunnel daher-
rasenden Schnellzuges — nur noch viel intensiver — und in
demselben Augenblicke rief auch schon der erste und erfahrenste
Führer Burnet: „Eine Lawine! Wir sind Alle verloren!" Etwa
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St. entfernt, hatte sich eine gewaltige Eismasse losgelöst, die
mit unglaublicher Schnelligkeit auf den Gletscher zustürzte, an
dessen Rande sich die Gesellschaft befand. Bei der enormen
Schnelligkeit, mit welcher die Eismasse herangesaust kam, war
an eine Flucht nicht zu denken; es gab nur ein Mittel, der
Katastrophe zu begegnen: man musste sich platt auf die Erde
werfen. Nach dem ersten Aufschlage der Eismassen auf den Glet¬
scher trat
pin
Augenblick der Ruhe ein. Herr v. Holzhauson
sah in diesem Augenblicke, wie die Hauptmasse der Lawine auf
dem Gletscher aufschlug. Ein mächtiger Luftdruck warf aber
den Touristen etwa zehn Schritte zurück, und von diesem
Augenblicke an verliess ihn das Bewusstsein. Die Begleiter des
Herrn v. Holzhausen waren alle besser davongekommen. Der
erste Führer erhielt einige leichte Contusionen, ebenso der
Kammerdiener, dem es im letzten Momente gelungen war, hinter
einem Felsblocke Deckung zu finden. Grösstes Lob verdient
einer der Führer, namens Charles. Dieser riss im Augenblicke
der höchsten Gefahr Frau Menden zu dem Felsblocke hin und
gewährte ihr mit dem eigenen Leibe Schutz, so dass sie ohne
Verletzung davonkam, während der Führer sieben
grosse
Löcher
in dem Kopfe davontrug. Als die Bergsteiger wieder im Stande
waren, sich umsehen zu können, erblickten sie Herrn v. Holz¬
hausen bewusstlos bis an den Hals in Eis- und Schneemassen
begraben. 20 Min. waren nothwendig, um Herrn v. Hoizhausen
zu befreien; bald nachher gelangte er wieder zum Bewusstsein.
Der Verletzte konnte den
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stündigen Weg nach der Pierre
pointue zu
Fuss
zurücklegen; er wurde am nächsten Tage mit¬
telst Tragbahre nach Chamonix gebracht und soll sich bereits
wieder auf dem Wege vollständiger Genesung befinden.
Unfall im Ortlerflebiete.
Während im Montblancgebiete
eine Gesellschaft von Bergfreunden ohne ihr Verschulden in
eine von einem höheren Gletscher losgebrochene Eislawine
gerieth, verursachte im Ortlergebiete eine Gesellschaft von Eng¬
ländern (drei Herren und zwei Damen) dadurch, dass sie in vor¬
gerückter Nachmittagsstunde ein stark durchweichtes Schneefeld
behufs Abfahrens betrat, selbst eine Lawine, durch welche sie bald
eine Katastrophe erlitten hätte. Ueber diesen Unfall giengen, wie
dies in der Tagespresse so oft der Fall ist, die abenteuerlichsten
Gerüchte durch die Zeitungen. Nach einem Berichte einer Theil-
nehmerin geschah der Unfall beim Abstiege von der Hintergrat¬
spitze (? — soll wohl „Unt. Knott" heissen), welche die Gesell¬
schaft ohne Führer von der Baekmannhütte aus erstiegen hatte.
Die Dame berichtet: „Mit dem Herabsteigen kamen wir bald in
frisch gefallenen Schnee, der etwas weich war, so dass wir ziem¬
lich tief in denselben traten. Bald erreichten wir eine Stelle, wo
eine lange Strecke Schnee auf der Seite des Berges lag. Zu
beiden Seiten und auch am Ende desselben lagen ziemlich
grosse
Steine. Dagegen war der Abhang gar nicht besonders steil und
sah zuin Rutschen sehr einladend aus. Wir machten uns dazu
bereit, jede der zwei Damen zwischen zwei Herren; aber ehe
wir uns Alle fest aneinander angeschlosssen hatten, glitten wir
hinab, und einer von den drei Herren lief zurück. Dieser sah
bald zu seinem Entsetzen, dass sich aus dem weichen Schnee
eine Lawine bildete, die sich wie eine
grosse
Welle hinter
seinen Freunden erhob und dieselben bald in sich verbarg.
Dann sah er nichts mehr als einen immer schneller hinunter¬
fliegenden Haufen Schnee. Ich meinerseits erinnere mich, dass
wir, sobald wir die
Glissade anfiengen,
viel zu tief in den
Schnee eingesunken waren, und dass der Schnee wie bei einem
Sturm herumflog. Wir flogen wie der Wind hinab, plötzlich
Alle übereinandergeworfen, und ich fühlte, dass ich immer
schneller fortrollte. Aufhalten konnte ich mich nicht, der
Schnee hinter mir riss mich immer weiter fort. Endlich hielt
die ganze Masse an, ich stand auf und sah, dass wir Alle ganz
nahe aneinander waren, nicht mehr auf dem Schnee, sondern
auf den Steinen. Die Dame, deren Zustand noch etwas bedenk¬
lich ist, war auf den Kopf gestürzt und hat viele Wunden er¬
halten. Glücklicherweise konnte der zurückgebliebene Herr den
Berg schnell hinunterlaufen, um Hilfe zu holen, und in 2% St.
waren wir im Hotel, wo alles Mögliche für unsere Erholung
gethan wurde."
Auf dem Matterhorn
wurde, nach Berichten in Tagesblättern,
am 15. Juli der Führer Bin er, welcher mit einem Amerikaner
und einem zweiten Führer gieng, durch einen herabstürzenden
Stein auf den Kopf getroffen und schwer verletzt.
In der Tatra
wurde die Leiche des im September v. J.
verunglückten Postassistenten F. Scheich aus Neutitschein Mitte
Juli endlich aufgefunden, und zwar im Felkathale unter der
Schlagendorferspitze. Der massenhafte Schnee gestattete erst jetzt
die Auffindung. Wir haben über diesen Fall auf S. 241 vom
vorigen Jahre kurz berichtet.
Personal - Nachrichten.
Ludwig Purieohollcr,
unser In allen Krelseu von Alpen¬
freunden auf das Rühmlichste bekannter Vereinsgenosse, liegt
in Salzburg an Typhus schwer krank darnieder. Wir sind über¬
zeugt, dass alle unsere Vereinsgenossen sich in dem Wunsche
mit Pur tschell er's nächsten Freunden vereinigen, die stählerne
Natur des ausgezeichneten Alpinisten möge die tückische Krank¬
heit recht bald überwinden.
t Dr. med. F. Ohlenschlager.
Am 22. April d. J. starb in
Frankfurt
a. M:
das langjährige, hochverdiente Mitglied der
S. Frankfurt
a. M.,
deren
II.
Präsident, Dr. med. F. Ohlen¬
schlager. Obgleich schon länger leidend, besuchte er doch
alljährlich die Berge und bestieg noch im letzten Sommer die
Presanella. Mit Vorliebe weilte der Verstorbene in frühereu
Jahren an dem Achensee, an dessen Westseite er den von der
Gaisalm zum Winkelbauer führenden, aussichtsreichen „Marien¬
steig", auf eigene Kosten herstellen Hess. Ein ausgezeichneter
Mensch, ein tüchtiger Arzt und ein begeisterter Naturfreund,
hinterlässt Dr. Ohlenschlager in allen Kreisen seiner Vater¬
stadt das freundlichste Andenken.
Wissenschaftliche Mittheilungen.
Gletscherschliff.
Herr
Stud. math. Fritz Kreuter
in Mün¬
chen macht aufmerksam, „dass sich im Madauerthale in der
Nähe der Memmingerhütte ein höchst merkwürdiger Gletscher¬
schliff befindet. Auf der für Absteigende linken Seite des Weges
ist die Oberfläche eines gewaltigen Felsens derartig abgeschliffen,
dass sie nahezu die Gestalt eines
Paraboloids
angenommen hat.
Die erzeugenden Parabeln hat die Natur auf das Schönste in
die Oberfläche gezeichnet. Sie ist nämlich von durchaus para¬
bolischen Rinnen durchzogen, die zum Theile einander parallel
sich alle in Verticalebenen befinden und dreieckigen Querschnitt
haben. Diese Furchen kann wohl nur ein Gletscher, welcher
hier eine starke Neigung hatte, vermittelst härterer Steine, die
er mit sich führte, eingeritzt haben. Eine nähere Untersuchung
durch einen Geologen könnte vielleicht interessante Aufschlüsse
über die Natur und Bewegungsart dieses einstigen Gletschers
bringen."
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