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Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpcnvercius.
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selbst willen nicht als moralischer Makel galt?) Sie
waren selbstbewußte Vertreter ihres Volkscharakters,
während die Vergsteiger aller anderen Nationen damals
Neuerer waren und zu Hause den zähen Widerstand der
öffentlichen Meinung zu überwinden hatten und jetzt
noch nicht völlig überwunden haben.
Der Inhalt des Bergsteigens als Sport, wie ihn
zuerst die Engländer empfanden, hat in den Worten
A. F. Mummerys klassischen Ausdruck gefunden: „Ich
gestehe gern, daß ich selbst noch steigen würde, selbst wenn
es keine Landschaft mehr zu betrachten gäbe, selbst wenn
die einzig erreichbare Kletterei in den dunkeln, greulichen
Kesseln der Schluchten von
Yorkshire
zu finden wäre.
Anderseits würde ich noch im Vereich der hohen Firne
wandern, emporgelockt durch die schweigenden Nebel und
die lodernde Nöte der untergehenden Sonne, selbst wenn
physische oder andere Schwäche, selbst wenn in späteren
Äonen das Wachsen von Flügeln oder anderen Jude«
hörs von Engeln jeden Gedanken an Bergfahrten und
Kletterkunst an die unersättliche Vergangenheit versenkt
hätte.«)
Es scheint bei alldem fast unerklärlich, daß die Eng«
länder nicht die letzte Konsequenz des Bergsteigens als
Sport gezogen haben: das führerlose Gehen. Zwar
haben ungefähr gleichzeitig mit Purtscheller und den
Brüdern Ifigmondy einige englische Führerlose höchst
bedeutende Türen ausgeführt (erste Hälfte der achtziger
Jahre); und
Mummery
(1856/1895),
neben Whymper
der größte englische Bergsteiger, hat die Unlogik von
Türen mit Führer, wenn sie als Sport betrieben wer»
den, und den Zauber und Wert des führerlosen Gehens
mit den glänzendsten Worten dargetan, die über diesen
Gegenstand geschrieben worden find;') aber sie hatten
unter den Engländern wenig Nachfolger.
Mummery
vor allem ist eine Persönlichkeit für sich,, kein typischer
Vertreter des englischen Alpinismus wie Whymper.
Das führerlose Bergsteigen in der ganzen alpinen
Gilde zum Grundsatz erhoben haben vielmehr die Deut«
schen. Die Geschichte des deutschen Bergsteigens ist
überhaupt völlig unabhängig und verschieden von der des
englischen Alpinismus verlaufen. Das wird verständlich,
wenn man sich die grundverschiedenen Bedingungen des
deutschen und des englischen Bergsteigens vergegen»
wärtigt.
Der sportfreundliche Volkscharakter im England der
damaligen Zeit im Gegensatz zum übrigen Europa wurde
bereits erwähnt; daher der so viel frühere Beginn des
englischen alpinen Sports trotz größerer Entfernung von
den Alpen. Fördernd wirkte außerdem der größere
Reichtum der englischen mittleren und oberen Schichten:
Das Bergsteigen war für die Engländer ein Sport wohl»
habender Leute. Hierin ist wohl der Hauptgrund dafür
zu suchen, daß die Engländer nach Erschließung der
Alpen im großen sich nicht dem führerlosen Gehen zu»
wandten; sie waren eben imstande, danach sich der Er»
schliehung auheralpiner Gebiete, wieder mit Führern,
zu widmen, ebenso wie es vereinzelte deutsche Alpinisten,
die dazu in der Lage waren, auch getan haben. In den
deutschen Alpenländern dagegen trug das Bergsteigen,
als es Sport wurde, von Anfang an einen mehr demo»
kratischen Charakter; es wurde zunächst ein Sport des
Mittelstandes, vor allem der studierenden Jugend;'und
speziell das führerlose Gehen hat sich sicherlich dadurch
rascher verbreitet, daß die Mittel zu großen Führer-
turen im deutschen Mittelstande eben nicht vorhanden
waren.
(Fortsetzung folgt.)
Alpenvereins bücherei^ Alpines Museum und Laternbilderftelle
im Dienste der Werbung für den D u. O.
A -V.
Von Ernst Enzensperger in München.
Der Krieg ist auck am D. u. ö». Alpenverein nicht spurlos
vorübergegangen. Zahlreiche Mitglieder sind gefallen, eine
lncht unerhebliche Anzahl ist aus irgendwelchen Gründen aus
dem Verein ausgeschieden. Der Zustand des letzten Jahr»
zehnts, daß der äußere ilmfang des Vereins ohne besondere
Werbung ständig wuchs, ist nicht für die Zukunft zu erwarten,
ichon aus dem Grunde, weil der Wettbewerb ähnlicher Ver»
cinigungen immer größer wird. So wird der
3).
u. O. Alpen»
verein, wenn er feine alte Größe und Bedeutung aufrecht»
erhalten will, ein stärkeres Augenmerk der Aufgabe zuwenden
müssen, den Kreis seiner Mitglieder durch Werbetätig,
keit
zu erhalten und zu vergrößern. Die Sektionen werden
vom hauptverein in der Erfüllung dieser Pflicht unterstützt
werden müssen. Cs ist felbstverständlich, daß diefe „Lropa»
ganda"in^ jenen Grenzen erfolgt, die sowohl dem vornehmen
Charakter "als auch den im Alpinismus begründeten Auf»
gaben des größten alpinen Vereins allein entspricht.
Die Erschließung der Hochregion unserer deutschen und
österreichischen Alpen, der reiche Besitz an Schutzhütten und
Wegen, der als äußere Folgeerscheinung dieser segensreichen
5)
Vgl. C. Richter. Erschließung der Ostalpen
I. S.
16.
«j Übersetzt aus
„My climbs in the Alps and Caucasus",
S.
336. .
')
A. a. O.. S. N0sf., S.
358.
Tätigkeit
den D. u. O. Alvenvcrcin
zum ersten, in weitaus»
gedehnten Gebieten sogar zum alleinigen Herrn der von den
Bergsteigern als ihr ureigenstes Feld betrachteten Gegenden
machte, war wohl der Grundpfeiler der Stärke des größten
alpinen Vereins. Der Krieg hat in zahlreichen Landstrichen
der Alpen, die zu den fchönsten und im Frieden besuchtesten ge»
hören, Anlagen geschaffen, die an Umfang, Großartigkeit und
Güte die Tätigkeit des D. u. O. Alpenvereins in den Schat»
ten
stellen. Mit dem Frieden verlieren sie größtenteils ihren
bisherigen Zweck, sie werden herrenlos; wer sie für friedliche
Zwecke gewinnt, wird besonderen Anteil an der Hochregion
der Alpen und damit an dem Interesse der Vergsteiger ge>
winnen, die in ihrer Gesamtheit nach dem Kriege sicher nicht
abnehmen, sondern an Zahl gewaltig zunehmen werden.
Darin liegt unzweifelhaft eine Gefahr für die Stellung
des D. u. O. Alpenvereins. Nur wenn er sich rechtzeitig um
den Besitz dieser wertvollen neu geschaffenen Stützpunkte
be»
müht, wird er imstande fein, feine bisherige Vormacht»
stcllung in feiner eigentlichen Arbeitsstätte und damit die
stärkste Grundlage feines äußeren Anfchcns zu behaupten.
Der D. u. ö. Alpcnverein hat im Alpinen Mufeum
und in der Bücherei des D. u. ö. Alpenvereins Cinrich»
tungcn geschaffen, die zunächst wohl eher als machtvolles äuße»
res
Zeichen der Bedeutung und Größe des Vereins gedacht
waren. Bei ihrer Gründung mag der Gedanke, sie zu
fruchtbarem Besitz des Vereins im Sinne der Wer»
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